O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Rheinisches Südamerika

VERBUNDEN, ABER NICHT VERRÜHRT
(Diverse Komponisten)

Besuch am
15. Juli 2022
(Premiere)

 

Atelier Mobile – Travelin‘ Theatre, Open-Air-Spielstätte am Weidenweg, Köln

Während die Medien den Eindruck zu vermitteln versuchen, wir lebten bereits, mindestens, was die Temperaturen angeht, in der Sahara, präsentiert sich – zumindest im Rheinland – ein prachtvoller Sommer mit gemäßigten 24 Grad in den Abendstunden. Ja, es regnet wenig, aber es darf auch mal ein paar Wochen weniger regnen. Der Seele gefällt das. Eine gute Gelegenheit, einmal mehr das Sommerprogramm zu besuchen, das Jens Kuklik als Künstlerischer Leiter von Atelier mobile – Travellin‘ Theatre in diesen Wochen auf den Poller Wiesen am Weidenweg in Köln anbietet. Am heutigen Abend geht die Reise nach Südamerika. Gleich zwei Ensembles hat Kuklik eingeladen.

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Kalimarimba ist eine musikalische Familie, die aus Tänzern und Musikern besteht und 1998 das Ensemble in Santiago di Chile gründete. Der Name ist eine Kombination aus den beiden Rhythmusinstrumenten Kalimba und Marimba damit Programm. Auf der Bühne fallen sie durch ihre Originalität auf. Mit ihrer Musik, häufig eigene Kompositionen, schreiben sie die Gedichte ihrer Vorfahren weiter. In vielen ihrer Stücke geht es um den Respekt vor der Natur. Im Rahmen einer kleinen Europa-Tournee sind vier der Musiker nach Köln gekommen: Piny Levalle Saenz als Kopf des Ensembles, Claudia Campusano, Relmu Levalle Campusano und Tramel Levalle Campusano. Von anderen Künstlern ihres Heimatlandes heben sie sich durch eine originelle Instrumentenauswahl ab. Mit seinem Konzert Kalimba de los Andes entführt Kalimarimba das Publikum in die musikalischen Welten des chilenischen Hochlands. Dabei kommen Kalimbas, das peruanische Cajón, Pututu, Teohtihuacana, Trompes und Ocarina als Instrumente zum Einsatz. Zwar spielen die Musiker auf der Bühne, aber deren Rückwand ist entfernt, so dass sie im Licht der untergehenden Sonne stehen. Ein fabelhaftes Bild, das ein offensichtlich fachkundiges Publikum sehr konzentriert zu genießen weiß. Zumal die Bestuhlung vom Rasen auf den Asphaltweg vorgerückt ist und damit mehr Nähe erlaubt.

Eine Umbaupause nach diesem ausgiebig gefeierten Konzert wird fleißig genutzt, um von der frisch zubereiteten Pizza zu kosten und Getränke zu sich zu nehmen. Und nun wird auch klar, warum die Rückwand der Bühne entfernt wurde. Die Stühle werden umplatziert, so dass die Besucher sich auf beiden Seiten der Bühne verteilen können. Für das folgende Stück haben Constanza Ruiz Campusano, Armanda Romero Cánepa und Greta Salgado Kudrass eindrucksvollen Aufwand betrieben. Zwei Mal sind sie für mehrere Wochen in das Andengebiet Boliviens gereist, um zu recherchieren. Gegenstand ihrer Erkundung war das Fest Tinku, von dem sie sagen, es sei ein „Kampfritual mit heftigen Faustschlägen, ein Karnevalstanz in Bolivien, ein Tag, an dem Gemeinden aus verschiedenen Regionen zusammentreffen, musizieren, tanzen, kämpfen“. Das künstlerische Ergebnis fand sich vor zwei Jahren in dem Stück Sinp’a wieder, das vom Tanzkollektiv Dencuentros, also den drei Tänzerinnen, die seit acht Jahren in Köln leben, im Tanzhaus NRW uraufgeführt wurde.

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Jetzt also zeigen die drei Tänzerinnen noch einmal ihr ganz persönliches Tinku-Fest in natürlicher Umgebung. Und die Vorbereitung ist schon mal eindrucksvoll. Da flechten sich die drei gegenseitig lange Zöpfe in die Haare. Kleiden sich in die Kostüme von Lena Kremer, die Trachten nachempfunden zu sein scheinen. Kaum ist die 40-minütige Aufführung eröffnet, werden die Trachten mit ihren schweren, federbewehrten Hüten wieder abgelegt, damit das Fest Fahrt aufnehmen kann. Zur Musik von Carlos Auza, der sie aus dem bolivianischen Cochabamba, wo das Tinku-Fest stattfindet, mitgebracht hat, gibt es schnelle Rhythmusfolgen, bei denen die Tänzerinnen sich ausweichen, um im nächsten Moment wieder aufeinanderzuprallen. Es gibt Scheinkämpfe, bei denen die blanken Fäuste den Gesichtern der Gegner verdächtig nahe kommen. Endlich werden auch die Besucher in das Fest einbezogen. Schnell werden sie auf dem Bühnenrand hingesetzt, mit Schirmen, Rettungsdecken und Getränken versorgt, ehe die Tänzerinnen sich vollkommen verausgaben. Zwei „Generalpausen“ unterbrechen die Aufführung, die möglicherweise für die Akteure nötig sind, aber die Spannung ein wenig herausnehmen. Dem Gesamteindruck des Stückes schadet das nicht.

Seit 2018 beschäftigen sich die Künstlerinnen mit der Auseinandersetzung von Begegnung und Konfrontation in einer anderen Kultur. Das Ergebnis fasziniert und nimmt gefangen. Und doch fragt man sich am Ende, wo eigentlich die Unterschiede zu Feiern in Deutschland sind, gerade jetzt, wenn in Düsseldorf wieder die „größte Kirmes am Rhein“ ihre Pforten öffnet. Und erstaunt kann man feststellen, dass sich da manches doch eher ähnelt. Vielleicht wird hier mehr Alkohol getrunken, vielleicht sind die Tänze in den Kirmeszelten stärker ritualisiert, weniger von Improvisation und Kunstfertigkeit getragen, was auch an der Grobschlächtigkeit der Musik liegen mag. Aber die Ähnlichkeiten sind unverkennbar. Was ja zu einer durchaus positiven Erkenntnis führen könnte: Wer aufhört, nach den Unterschieden zu fragen, kommt sich über Gemeinsamkeit sehr schnell näher. Das gilt auch für diesen Abend. Nachdem die Künstlerinnen ausgiebig gefeiert worden sind, mischen sie sich rasch unter das Publikum, um für Gespräche zur Verfügung zu stehen. Und während die Feier auf den Poller Wiesen noch lange weitergeht, bereiten sich schon die nächsten Künstler auf ihren Auftritt dort vor. Am 20. Juli wird die Wandertheatergruppe Ton & Kirschen zu Gast sein, um eine „Melange aus Slapstick, Akrobatik und Puppenspiel“ zu zeigen und damit die Legende vom heiligen Trinker zu erzählen.

Michael S. Zerban