O-Ton

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Foto © Oliver Stroemer

Aktuelle Aufführungen

Engel haben keine Seele

SEELE.TERRITORIUM
(Kristóf Szabó)

Besuch am
20. April 2023
(Uraufführung)

 

F.A.C.E. Ensemble, Orangerie-Theater, Köln

Anfang März feierte der Sommernachtstraum in der Inszenierung von Kristóf Szabó am Deutschen Staatstheater Temeswar, Rumänien, seine Premiere. Nach kurzer Pause in der Heimat Köln ging es für den Regisseur und Choreografen schon weiter nach Budapest, Ungarn, um dort die Uraufführung seines neuen Stückes Seele.Territorium mit dem eigenen F.A.C.E. Ensemble vorzubereiten.

Am Donnerstag eine Premiere zu feiern, ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits geht man dem Überangebot am Wochenende aus dem Weg. Andererseits muss man schon ziemlich starke Argumente haben, um die Menschen vor die Bühne zu locken, eben, weil sich die Aktivitäten üblicherweise auf das Wochenende konzentrieren. Und solche Argumente sollten auch auf den Plakaten stehen. Eigentlich hat Szabó interessante Lockmittel in Form von Mitwirkenden, die über die Stadtgrenzen hinaus bekannt sind, aber sie tauchen nicht auf den Plakaten auf. Und so bleiben bei der Uraufführung im Kölner Orangerie-Theater viele Plätze leer. Das ist ärgerlich, weil der künstlerische Leiter mit Seele.Territorium ein Stück vorstellt, über das man anschließend vortrefflich diskutieren kann – oder vielleicht sogar muss.

Schon die Bühne eine Überraschung. Ein reinweißer Raum. Keine Requisiten. Ein Raum, der von einer Seele gefüllt wird in Form plasmaähnlicher Projektionen, die Ivó Kovács mit seiner Extended Reality über alle Flächen verteilt. Ein Engel, so die Hypothese Szabós, muss sich, wenn er auf die Erde will, an eine Seele heften. Erst dann kann er ein dreifaches Bewusstsein entwickeln. Der Körper, das Ich und das Begehren entstehen raumgebunden. Natalia Voskoboynikova, Opernsängerin und Tänzerin, betritt den Raum, singt von der Notwendigkeit zu trinken, wird zunehmend „körperlich“. Hinzu gesellt sich Karolina Tóth als Tänzerin und Interpretin des Ich. Erst in ihrer Annäherung entsteht das Begehren, dem sich Adrian Castelló zu stellen hat, der erst nach 20 Minuten die Bühne betritt. Für alle drei hat sich Emese Kasza fantasievolle Kostüme ausgedacht. Während Voskoboynikova in zerrissenen Strumpfhosen und Leinenhemdchen auftritt, zeigt sich Tóth in glitzerndem Silberlamé zu weißer Hose und Costelló präsentiert sich in strahlend unschuldigem Weiß.

Szabó entwickelt das Stück subtil. Kaum, dass es dramaturgische Spitzen gibt. Eher oft eckige Bewegungen, die Annäherungen lange vermeiden, ehe die Begehrlichkeit alle drei zusammentreibt, sie schließlich sekundenlang zu Statuen zusammenschweißt. Allenfalls kann die Verschmelzung von Ich und Begehrlichkeit in Form einiger Hebefiguren die wellenförmigen, ja, sphärischen Bewegungen durchbrechen. Erst, wenn das Ich gefüllt ist, zu schwer, sich zu bewegen, kommt auch die Seele zum Stillstand. Die Projektionen frieren ein. Mit den Klängen von Voskoboynikovas Stimme endet die einstündige Aufführung.

Unterlegt hat Szabó den Tanz des Trios mit Musik der jüngeren Vergangenheit. Es gibt ausgewählte Sequenzen aus La perfezione di uno spirito sottile – die Perfektion eines subtilen Geistes – aus dem Jahr 1985 und Ultime rose da vanitas – die letzten Rosen der Eitelkeit – aus dem Jahr 1981 von, wie könnte es anders sein, Salvatore Sciarrino. 1961 entstand Morton Feldmans Durations, was man vielleicht am ehesten mit Zeitdauern übersetzen könnte. Die ebenso komplexe wie feinsinnige Musik kommt von der Festplatte. Einerseits sprengte es den Rahmen, hier live spielen zu wollen, was aber wichtiger ist: Die fehlende Ablenkung durch Musiker sorgt für eine ungleich stärkere Intensität in der Wirkung der Wand- und Boden-Projektionen.

Kristóf Szabó und seine Mitstreiter – die Tänzer haben das Bewegungsmaterial mitgestaltet – setzen mit der Innerlichkeit von Seele.Territorium einen Gegenpol zum lauten Geschrei von Gender, Post-Colonialism, Non-Racism und was den zeitgenössischen Tanz derzeit noch so politisch korrekt umtreibt, ohne meditativ zu werden. Auch ohne sich auf Engelssphären einzulassen, kann man sich Fragen zum eigenen Bewusstseinszustand kaum entziehen. Und wenn der Tanz auch wenig Spektakuläres bietet: Das atmosphärische Knistern der einstündigen Aufführung, das die Tänzer permanent aufbauen, geht wohl an keinem spurlos vorüber.

Weitere Aufführungen finden am 21., 22., 27., 28. und 29. April im Kölner Orangerie-Theater jeweils ab 20 Uhr statt.

Michael S. Zerban