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Aktuelle Aufführungen

Tango ist Leben

RUND UM DEN TANGO
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
7. Mai 2020
(Livestream)

 

Hinterhofsalon, Köln

Nein, man kann Christina und Gerhard von Richthofen sicher keine Einfallslosigkeit nachsagen. Bislang ist es ihnen an jedem Donnerstag gelungen, eine vollkommen andere Live-Aufführung anzubieten. Die technischen Herausforderungen werden immer besser beherrscht, so dass man sich wirklich schon auf die Veranstaltungen in Antje Reuthers Hinterhofsalon in Köln freuen kann. Und es ist allen Beteiligten zu wünschen, dass die eingeforderten Spenden auch die Höhe erreichen, mit der sich der Aufwand Woche für Woche lohnt.

In dieser Woche müssen sie allerdings schon ein bisschen konstruieren, um das Motto 2 For You durchzuhalten. Denn zu Gast sind drei Personen oder, um eben im Wortkonstrukt Christina von Richthofens zu bleiben, ein Schauspieler und ein Tanzpaar. Dem Zuschauer ist das ohnehin ziemlich egal, spätestens am Ende dieses Abends. Der Schauspieler Herb A. Bruns hat seine Liebe zum Tango entdeckt und in einer Lesung mit Musik verarbeitet. Denn wie bei allen Tänzen, die sich aus der Mitte der Gesellschaft entwickelt haben, gibt es auch beim Tango unzählige Geschichten, die sich rund um den Tanz – oder besser: das Lebensgefühl – Tango ranken. Eigentlich kann man Tango deshalb auch nicht nach Regeln lernen, sondern man muss sich in ihn einfühlen. Trotzdem bieten viele Tanzschulen das Erlernen der Tanzschritte an, und die Kurse sind überlaufen. Vielleicht liegt es daran, dass der Tango „ein Monster mit zwei Köpfen und vier Beinen“ ist. Zwei Körper verschmelzen zu einer Einheit, deren Eleganz und im besten Fall erotische Ausstrahlung überwältigend sein kann. Zwei solcher Tanzlehrer sind Diana Munyakazi und Daniel Perusin, die unter anderem in Köln die Tango-Argentino-Schule Tangonauten betreiben und ebenfalls zu Gast sind, um das Gesagte von Bruns mit praktischen Beispielen zu untermalen.

Für Menschen, die sich noch nicht mit dem Tango befasst haben, wird das ein großartiger Abend, auch wenn die Wortbeiträge bisweilen sehr lang geraten und der zu oft erhobene, pädagogische Zeigefinger nervt. Zur Untermalung seiner Beiträge hat Bruns ein Tablet neben sich liegen, auf dem er Musikbeispiele mehr oder minder gelungen hoch- und runterfährt. Die gute Absicht ist erkennbar, aber bisweilen wirkt es doch ein wenig mühselig. Das ändert aber nichts daran, dass seine Geschichten hochinteressant sind, die von der mutmaßlichen Entstehung, Entwicklung bis zum Modetanz in Europa bis in die Erlebnisse eines Tango-Schülers der Gegenwart reichen. Wenn man da irgendetwas vermisst, dann allenfalls den Tango Nuevo, der die letzten Jahre in der Entwicklung des Tangos entscheidend geprägt hat. Stattdessen wird die Patina der Vergangenheit hervorgeholt. Bruns hat tatsächlich ein Grammophon mitgebracht, um Schallplatten aufzulegen, die schon Perusins Vater gehörten. Eine hübsche Idee.

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Das Internet ist ein schnelles, man könnte auch böse sagen, ein Häppchen-Medium. Da führt ein zehnminütiges Vorgespräch schon mal zum vorzeitigen Abbruch des Besuchs. Beim Livestream gibt es keine Vorlauftaste.

Die braucht man auch nicht mehr, wenn Munyakazi und Perusin sich auf die geschickt hergerichtete Tanzfläche begeben. Aus dem Jahr 1923 stammt Buenos Aires, ein Tango der Legende Carlos Gardel, der krächzend vom Grammophon ertönt. Mit viel Anmut und Variationsvielfalt können die beiden Tänzer von Anfang an faszinieren. Weiter geht es mit der vielleicht berühmtesten Melodie des Tango Argentino, hier zu hören von einer Platte aus dem Jahr 1939. Es ist die Cumparsita, also der Karnevalszug, von Xavier Cugat. Die Musikauswahl ist insbesondere, was die Stilvielfalt angeht, gelungen. Die Milonga Triste von Hugo Diaz ist stark von der Habanera beeinflusst. Und gibt Perusin und Munyakazi einmal mehr Gelegenheit, elegante Ochos und Lustradas zu zeigen. Für Tango-Schüler ist es eine wahre Lust, die Figuren und Tanzschritte hier im Fluss zu erleben, die sie in mühsamer Kleinteiligkeit mit viel Verzweiflung und Fleiß auf den Parkettböden ihrer Schulen einüben. Ja, so müsste man es können, dann könnte man auch wirklich mit dem Lernen aufhören und mit dem Fühlen beginnen. Der Eindruck verstärkt sich noch beim nachfolgenden El choclo, dem Maiskolben. Dieser Titel ist so anzüglich gemeint, wie er klingt.

Der Tango Valse gilt als die beschwingteste Tango-Form, zumindest in der Vergangenheit. Als Beispiel dafür tanzen Munyakazi und Perusin Sonar y nada mas von Alfredo di Angelis. Hier allerdings möchte man den Gleichmut im Tanz der beiden schon ein wenig hinterfragen. Denn die verschiedenen musikalischen Richtungen hatten selbstverständlich auch Einfluss auf die Schritte und das Temperament der Tanzenden. Da hätte man sich an dieser Stelle ein wenig mehr gewünscht. Aber das gleichen die beiden mit der letzten Nummer wieder aus. Oblivion von Astor Piazzolla darf man getrost als Klassiker bezeichnen. Vollendet getanzt, ist das Stück der gelungene Abschluss eines wunderbaren Abends, der so ganz – wieder einmal – aus dem Rahmen fällt. Noch einmal zeigen die Tänzer, dass Tango eigentlich kein Tanz, sondern Schritte durch das Leben, wenn nicht das Leben selbst ist.

In der kommenden Woche wartet bereits der nächste Höhepunkt der Reihe im Hinterhofsalon. Dann singt Anna Herbst zur Gitarrenbegleitung Alte Musik, eines ihrer Spezialfächer. Und wie man Herbst kennt, wird sie sich sicher wieder ein exquisites Programm einfallen lassen. Die Fans des Kulturkanals 20-20.live werden dann auch womöglich schon erfahren, wie es mit den Livestreams nach dem 30. Mai weitergeht, wenn offiziell Auftrittsverbote aufgehoben und die Türen der Theater – zumindest theoretisch – wieder geöffnet werden.

Michael S. Zerban