O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ana Lukenda

Aktuelle Aufführungen

Panorama-Theatralik

DIE REVOLUTION LÄSST IHRE KINDER VERHUNGERN
(André Erlen, Stefan H. Kraft)

Besuch am
12. November 2022
(Uraufführung)

 

Schauspiel Köln, Depot 2, Köln

Ein Arte-Themenabend könnte nicht besser losgehen. Ein Fotoalbum wird aufgeblättert. Wir dürfen mitgucken, mitlesen. Offenbar ist die Dramaturgie des Kölner Schauspiels der Meinung, dass wir von der Hungerkatastrophe in der Ukraine der 1930-er Jahre, ausgelöst durch die Kollektivierung der Landwirtschaft, ausgenutzt von Stalin, nichts wissen. Das muss natürlich nachgeholt werden! Entsprechend nimmt dieser Abend kräftig Anleihen bei der Geschichts-Doku, ja, taucht in die Niederungen der Geschichts­stunde. Sobald wir das Fotoalbum durchhaben, schickt André Erlen Stefko Hanushevsky nach vorn. Der gibt den Studienrat im Conférencier. Ob wir den Gründungsmythos von Athen kennen? lautet die Frage. Als ihm aus dem Saal ein Ja entgegenschallt, blockt er ab: Wollen Sie oder soll ich? Paff! Rhetorische Fragen sind rhetorische Fragen. Und Publikum ist Publikum. Es spricht nicht. Es wird besprochen.

Natürlich medial aufgelockert, aufbereitet, versteht sich. Von seiner Bühnenbildnerin Michaela Muchina hat sich Regisseur Erlen drei feldgraue, in die Senkrechte gestellte Teppiche ausbedungen. Das sind dann die Leinwände, auf die im weiteren Verlauf nach Kräften projiziert werden wird. Historische Filmdokumente, Zeugen­aussagen, aber auch aktuelle Reportagen aus der Ukraine der Gegenwart. Theater heute greift weit aus, wildert zunehmend in Gebieten, die von den Auslandsjournal-Redaktionen der Öffentlich-Rechtlichen beackert werden müssten. So ist von Köln aus tatsächlich ein Filmteam in die heutige Ukraine gelangt, wo es Interviews mit Nachkommen von Holodomor-Zeugen gedreht hat. Bilder, die während der Aufführung eingespielt werden. Dazu gibt es live geschossene Close ups der Schauspieler, die reale Figuren aus den 1930-ern darstellen: Gareth Jones, einen irischen Journalisten, Magda Homann, eine niedersächsische Landwirtin, Stepan Podlubny, einen dem Bolschewismus verfallenen Ukrainer, und den bekannten Lew Kopelew, den Böll-Freund.  Sie alle werden beim Deklamieren beobachtet, finden sich als Schnappschuss auf dem Projektions-Teppich wieder, mal mit, mal ohne gereckte Faust.

Foto © Ana Lukenda

Es gehört zu den Widersprüchen dieser Inszenierung, dass sie in ihrer Verurteilung des die Ukraine zu Grunde richtenden Bolschewismus ausgerechnet das plakativ-holzschnittartige Geschichtsverständnis der Sowjetunion als Folie benutzt. Wie die Figuren dastehen, wie sie geführt werden, wie sie gekleidet sind – all das ist mehr oder minder direkt den Abziehbildern des Sozialistischen Realismus entnommen. „Inspiriert von den sowjetischen Geschichtspanoramen“ habe man ein „theatrales Panoramabild“ entstehen lassen. Das klingt nicht nur plump, das ist es auch. In einen der aufgehängten Bühnen-Teppiche hat man ein Loch geschnitten. Ein Saalmikrofon ragt heraus, von wo aus auch wiederum allerlei vermeldet werden wird. Wo soll es mit diesem Theaterabend hinaus? – Viele Möglichkeiten bleiben nicht. Da man sich als moralische Anstalt begreift, da man Geschichte theatral nachstellen will, bleibt auf der Zielgeraden dieser in jedem Moment vorhersagbaren neunzig Minuten nur noch Tribunal und Fanal. Eine stumm abrollende Texttapete schließt als Solidaritätsadresse mit den kämpfenden Truppen.

Ohne die Musik an diesem Abend bliebe von der Inszenierung tatsächlich nur das Gähnen. Sobald gesungen wird, ist man indessen ganz Ohr. Und es wird wunderbar gesungen. Zweistimmig von den Komponisten-Performerinnen Mariana Sadovska, Yasia Sayenko, aber auch mehrstimmig. Zusammen mit dem souveränen Bühnenmusiker, Bühnen­komponisten Jörg Ritzenhoff, der auf seinem Stühlchen am Rand unspektakulär in der Rolle des musikalischen Leiters brilliert, hat man es geschafft, die Ensemble­mitglieder in ein intonationssicheres A-cappella-Musizieren hineinzunehmen. Eine ganz unglaubliche Leistung! Was erklingt, was erlebbar wird, ist mehrheitlich ukrainische Folklore, dazu zwei Bearbeitungen von Gedichten der Nationalpoeten Taras Schewtschenko, Pavlo Tychyna sowie, dies der Part von Ritzenhoff, ein einfühlsames elektronisches Zuspiel zum Bühnengeschehen, in das Ritzenhoff im Übrigen mit integriert ist, insofern er manche vokalen Nummern mitsingend abstützt, aus der Ferne. Lauschend folgt man diesen Miniaturkonzerten, die aus der grauen See einer eintönigen Panorama-Theatralik wie glückverheißende Inseln herausragen. Es ist diese Stimmung, die man mitnimmt.

Georg Beck