O-Ton

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Nichts dazugelernt

THE RED DEATH
(Francesco Filidei)

Besuch am
21. Oktober 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Kölner Philharmonie

1348 wütete die Pest in Florenz. Ausgangssituation für Giovanni Boccaccios Novellensammlung Decamerone, in der sich sieben Frauen und drei junge Männer in ein Landhaus zurückziehen, um sich vor der Ansteckung und dem damit verbundenen Tod zu schützen. Die Isolation ist das eine. Die freiwerdende Zeit das andere. Im Dekameron verlustiert sich die Gesellschaft mit immer neuen Spielen. 1831 wurde Edgar Allan Poe Zeuge einer Cholera-Epidemie in Baltimore und entwickelte aus diesen Erfahrungen die Kurzgeschichte The masque of the red death – die Maske des Roten Todes. Prinz Prospero zieht sich mit einer Gruppe Privilegierter in eine Abtei zurück, um sich vor dem Roten Tod zu schützen, der die Hälfte seiner Untertanen dahingerafft hat. Um die Zeit in der Isolation zu überbrücken, veranstaltet er einen Maskenball. 2020 verordnete die deutsche Regierung ihrer Bevölkerung ebenfalls eine Komplettisolation, um einer Pandemie Herr zu werden. Ein Vergnügen war das allerdings bei weitem nicht. Dem kleinen Mann wurde die fröhliche Gesellschaft untersagt. Womit sich die Reichen die Zeit vertrieben haben, auf welchen Schlössern, Landsitzen oder Yachten sie sich vergnügten, ist noch nicht in Erzählungen gegossen. Also hat sich Francesco Filidei auf die Erzählung von Poe gestürzt und sie in ein Oratorium gegossen, zu dem Hannah Dübgen das Libretto geschrieben hat. Prompt haben die beiden damit einen Preis bei den Donaueschinger Musiktagen gewonnen. „Das Werk arbeitet mit ausgeklügelten Details und virtuosen Verbindungen, und es schafft einen dramaturgischen Spannungsbogen mit einer starken, vielstimmigen, aber gemeinsamen Aussage. Eine künstlerische Auseinandersetzung mit unserer unmittelbaren gesellschaftlichen Gegenwart“, lautete auszugsweise die Begründung der Jury, nachdem das Werk dort am 17. Oktober, also vor wenigen Tagen, uraufgeführt wurde. Weniger konkret hätte man es kaum fassen können.

Rinnat Moriah – Foto © O-Ton

Die Kölner Philharmonie ist kaum zur Hälfte besetzt. Obwohl es weder Platzbeschränkungen noch Maskenpflicht am Platz gibt. So genannte neue Musik besitzt keine Anziehungskraft, ruft möglicherweise gar Berührungsängste hervor. Und glaubt man Jan Brachmann, dem Redakteur der FAZ, wird sie die letzten Reste ihrer Magie in der kommenden Zeit ohnehin aufgeben, weil Komponisten auf Wokeness setzen und damit schneller Fördergelder einstreichen. Als woke werden Menschen bezeichnet, die „ihrem Bewusstsein für Ungerechtigkeiten, Ungleichheit und Unterdrückung von Minderheiten Ausdruck verleihen möchten“, definiert Wikipedia sehr freundlich. Um es verständlich zu machen: Wer ein Lied komponiert, dass sich um Rassismus dreht, bekommt die Fördergelder rasch bewilligt. Ein solcher Trend, sagt Brachmann, zeichnet sich bereits bei den 100. Donaueschinger Musiktagen ab.

Das ist in Köln kein Thema. Dübgen erzählt Poes Geschichte in Kombination mit den sieben Todsünden, die in Dantes Divina Commedia erscheinen. Und Filidei geht in die Vollen. Ein solch aufwändiges Werk hat man lange nicht mehr erlebt. Das SWR-Symphonieorchester unter Leitung von Sylvain Cambreling tritt gemeinsam mit drei Chören an, die aus dem Chorwerk Ruhr und dem SWR-Vokalensemble zusammengestellt sind. Vier Solisten übernehmen den Gesangspart und Carlo Laurenzi besorgt die computermusikalische Realisation.

Hagen Matzeit – Foto © O-Ton

Dass die Sänger trotz Mikrofonierung oft textunverständlich bleiben, ist wohl eher den Anforderungen des Komponisten als ihrem Können geschuldet, bleibt aber verschmerzbar, weil das Libretto im Programmheft mitgelesen werden kann. Als Prospero nimmt Countertenor Hagen Matzeit eine Sonderrolle unter den Solisten ein. Sein zusätzlicher Schwierigkeitsgrad, den er bravourös meistert: Filidei verfälscht seine Stimme, so dass er keinen reinen Sopran singt, sondern eher so etwas wie Falsett und selbst Husten gehört zu seiner Rolle. Rinnat Moriah ist der Sopran auf den Leib geschrieben, und so ist nicht nur ihre Stimme ein Genuss. Vielmehr macht es ihr Spaß, ihre Rolle auch zumindest mimisch und gestisch zu unterstreichen. Mezzosopranistin Tora Augestad wird von ihren Aufgaben kaum überfordert, trotzdem klebt der Blick an den Noten. Ebenfalls Spaß an seiner Rolle hat Bariton Dietrich Henschel, die er augenscheinlich sehr ernst nimmt und mit Exzellenz erfüllt. Ed Lyon bekommt für seinen Tenor wenig Einsatzmöglichkeiten. Zudem wird er auch noch so unglücklich platziert, dass man ihn selten zu Gesicht bekommt.

Stattdessen gibt es bei Cambreling eine Menge zu sehen. Der Dirigent ist auf neue Musik spezialisiert und leistet mathematisch abgezirkelte Handarbeit. Kurze Schläge reichen, um das hochkonzentrierte Orchester und die Chöre zu glänzenden Leistungen zu veranlassen. Dem Credo, in der neuen Musik Instrumente nach Möglichkeit anders klingen zu lassen als beispielsweise in der Romantik, folgt auch Filidei, der das Orchester um musikalische oder Geräuscheinspielungen ergänzen lässt. Da knallen die Saiten der Streicher, flüstern die Bläser und die Perkussionisten haben alle Hände voll zu tun, atmosphärische Klänge zu erzeugen, die die Stimmung der Poeschen Geschichte wirkungsvoll unterstreichen.

Nach gut anderthalb Stunden geht eine eindrucksvolle Aufführung zu Ende, in der sich eine rote Maske als wesenloses Geistgebilde herausstellt, das ziemlich viel Tod im Gepäck hat. Das Publikum ist begeistert beklatscht lange den gewaltigen Klangapparat als Gesamtleistung, der über Strecken immer wieder hohe Anforderungen meistert. Eine Frage allerdings bleibt unbeantwortet: Wer eigentlich der tatsächlich Privilegierte in Stunden höchster Gefahr ist.

Michael S. Zerban