O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Oliver Stroemer

Aktuelle Aufführungen

Ganz schön unwirklich

POSTSCRIPTUM. REVIERHÜNDIN
(Kristóf Szabó)

Besuch am
5. Dezember 2024
(Uraufführung)

 

F.A.C.E. Visual Performing Arts in der Wachsfabrik, Köln

Das ist irgendwie surreal“: Ein Satz, den wohl jeder kennt. Meist dient er als Beschreibung eines Zustandes oder Geschehens, was einem irgendwie unwirklich vorkommt. Was hinter dem Surrealismus steckt, wissen schon sehr viel weniger Menschen. Dabei lohnt es sich durchaus, sich einmal näher mit dieser Bewegung zu beschäftigen. Surreal stammt aus dem Französischen und bedeutet so viel wie „über der Wirklichkeit“. In den 1920-er Jahren bildete sich in Paris eine geistige Bewegung, deren Ziel es war, das Bewusstsein und die Wirklichkeit zu erweitern und alle geltenden Werte umzustürzen, um zu neuen Erkenntnissen auf den Gebieten der Philosophie, der Kunst, der Literatur und des Films zu gelangen. Um das zu erreichen, unternahmen die Anhänger der Bewegung die unterschiedlichsten Dinge. So sollte beispielsweise das Bewusstsein durch Traum, Schlaf oder Rauschmittel „abgeschaltet“ werden, um Unbewusstes in einem automatischen, nicht gesteuerten Schaffensprozess zum Vorschein zu bringen. Erfolge äußerten sich etwa in einer übergenauen Malweise, Verfremdung oder Kombination unmöglicher Dinge und Zustände, die die Wirklichkeit übersteigen. Seit 1921 führte der französische Schriftsteller und Kritiker André Breton die Bewegung an. Als Geburtsstunde des Surrealismus gilt allerdings das Jahr 1924, in dem Breton sein erstes Manifeste du Surréalisme veröffentlichte. Mithin feiert der Surrealismus in diesem Jahr sein hundertjähriges Bestehen.

Annika Hofgesang – Foto © Oliver Stroemer

Kristóf Szabó ist, das darf man wohl sagen, ein Anhänger des Surrealismus. 1999 bis 2000 war er Mitglied einer neosurrealistischen Künstlergruppe in Köln, hat sich mit dem Thema auch literarisch auseinandergesetzt, insbesondere die Schriftstellerinnen des Surrealismus haben es ihm angetan. So nimmt er das Jubiläum gern zum Anlass, seine eigene Arbeit daran auszurichten und einen „Neuanfang“ zu wagen. Mit Revierhündin, seinem neuesten Stück, das er für sein Ensemble F.A.C.E. Visual Performing Arts entwickelt hat, beginnt er die Reihe Postscriptum. Dafür hat er zunächst einmal seine langjährige Wirkungsstätte, das Orangerie-Theater in Köln, verlassen und ist an eine Spielstätte zurückgekehrt, die er bestens kennt. Bei Barnes Crossing in der Wachsfabrik im Kölner Stadtteil Rodenkirchen war er von 2011 bis 2018 künstlerischer Leiter des Internationalen Solo-Duo-Tanzfestivals. Schon das Entrée mutet eher wie in einem Horrorfilm als bei einem Theaterbesuch an. Der Wind treibt Sprühregen durch die Dunkelheit. Über eher unbefestigte Wege, auf denen sich riesige und tiefe Pfützen gebildet haben, geht es zum Theatersaal. Die Bewegungsmelder, die eigentlich für die abendliche Beleuchtung sorgen sollen, funktionieren nur hin und wieder. Im Foyer des Theaters kämpft ein Ofen wenig erfolgreich gegen die klamme Kälte an. Das kann man ruhig eine surreale Einstimmung auf das Folgende nennen.

Szabó hat es im Vorfeld angekündigt. Nicht um Licht, sondern um die Dunkelheit soll es in dem neuen Stück gehen. Und so ist es im Saal in der Tat recht duster, so dass sich das skurrile Sammelsurium auf der Bühne erst nach und nach erschließt. Bedeutungsschwanger ist auf der rechten Seite ein Kreuz aufgestellt. Dahinter hat Ulrich Krähling, der die Bühnenideen von Szabó umgesetzt hat, zwei schiefe Ebenen aufgebaut, die nach hinten von Holzgittern begrenzt sind, symbolhaft stehen sie für menschliche Behausungen. Daneben steht eine Wand aus weißen Würfeln. Die wird benötigt, weil Szabó die schon ein wenig zur Gewohnheit gewordenen 360-Grad-Projektionen von Ivó Kóvacs diesmal durch seine Projektionen ersetzt, die auf die Wand beschränkt sind. Links davon im Vordergrund schließen sich zwei Holzgerüste an, auf dem einen spinnennetzartig ein Seil angebracht, der Fesselungskünstler Krähling aka Boshi Nawa lässt grüßen, auf dem anderen Platz für kleinere Würfel. In der Mitte des Raums aus Würfeln und Stoff ein Felsen.

Maximilian von Mühlen – Foto © Oliver Stroemer

Während Maximilian von Mühlens Stimme erklingt, um aus Die Gesänge des Maldoror von Lautréamont in einer Übersetzung von Ré Soupault den ersten Gesang vorzutragen, huscht ein energetischer Schatten durch den Raum, der sich später als die Tänzerin Annika Hofgesang entpuppen wird. Das Werk Lautréamonts, der gebürtig Isidore Lucien Ducasse hieß, wurde 1846 veröffentlicht, ist eines von zweien, die der bereits mit 24 Jahren verstorbene Dichter hinterließ und nahm großen Einfluss auf den Surrealismus. Warum, weiß von Mühlen mit balsamischer Stimme eindringlich und im Vortrag fehlerfrei zu verdeutlichen. Die kraftvolle, poetische Sprache scheint nicht von dieser Welt. Kurz nach dem Beginn wird von Mühlen sichtbar, um sich hernach in den Hintergrund zurückzuziehen, während die Geschehnisse auf der Bühne ihren Lauf nehmen. Man vermag sich auf die Inhalte des Gesangs nicht recht zu konzentrieren, aber schließlich will Szabó auch keine Lesung veranstalten, sondern die Bühne emotionalisieren. Und das gelingt ihm – auch mit unterlegten Jazz-Klängen, Musik seines Favoriten Salvatore Sciarrino und anderen von der Festplatte – und seinem Team auf im doppelten Wortsinn fantastische Weise.

Großartige Bilder entstehen da im Rausch der nächsten knappen Stunde. Fast schon humorvoll die beiden „Betonköpfe“, dargestellt von Krähling und Ivan Zilli, die die Unverbesserlichkeit der Menschheit verkörpern, wenn sie allerlei Unfug treiben. Ines Langel gefällt mit kleiner Sprechrolle und ihrem Mut zum Auftritt als gehäutete Prostituierte, die auch schon mal zum Messer greift, um zu masturbieren. Ja, da hört man schon beim Hinsehen den Aufschrei der „woken“ Gemeinde, was dem „alten weißen Mann“ Szabó da wohl Sexistisches eingefallen ist. Der hat allerdings gute Gründe dafür, die eigenbestimmte Sexualität darzustellen, die der Prostituierten ebenso wie jedem anderen zusteht, also Vorsicht vor allzu schneller Empörung. Eines der stärksten Bilder, wenn nicht das stärkste Bild des Abends liefert Tänzerin Lili Oksanen als Madonna.

Wenn Szabó zum Ende hin Schautafeln mit eigenen Zeichnungen hereintragen lässt, die an die surrealistische Formensprache erinnern, nutzt er sie, um den Kreis um Maldoror zu schließen. Damit geht ein ungewöhnlicher wie außerordentlicher Abend zu Ende. Kaum jemand, der hier unberührt bleibt, seine offengebliebenen Fragen noch mit in die Premierenfeier hineintragen will. Von diesem Abend wird man sich eine Menge merken. Der Surrealismus lebt. Szabó gelingt es, einen Abend zu gestalten, der tatsächlich über der Wirklichkeit schwebt. Und es gibt das durch und durch überzeugende Ensemble, das mit seiner Hingabe das Publikum begeistert.

Der Besuch ist trotz der eher inkommoden Anreise unbedingt empfehlenswert. Die Möglichkeit dazu gibt es noch am 6. Dezember um 19 Uhr und am 8. Dezember um 15 und 19 Uhr.

Michael S. Zerban