O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Mike Kleinen

Aktuelle Aufführungen

Verlorene Liebe mit Fleischerhaken

PEST VS. ROBOT
(Kristóf Szabó)

Besuch am
5. November 2021
(Uraufführung)

 

F.A.C.E. Ensemble, Orangerie-Theater, Köln

Im Grunde ist diese Rezension schnell fertig. Kristóf Szabó hat mit seinem F.A.C.E. Ensemble wunderbares Theater geschaffen. Eine gut durchdachte Geschichte mit wunderbaren Texten, unglaublich fantasievoll umgesetzt und mit grandiosen Schauspielern besetzt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Oder doch. Kluge Menschen lesen an dieser Stelle nicht weiter. Und sie lesen auch den Programmzettel nicht vor der Aufführung. Sie setzen sich in die Aufführung und beginnen zu staunen. Nach etwa einer Stunde wird sich der Bann, in den sie fast augenblicklich geschlagen werden, allmählich wieder lösen.

A Journal of the Plague Year. Beeing Observations or Memorials, Of the most Remarkable Occurrences, As well Publick as Private, which happened in London During the last Great Visitation In 1665 ist der Originaltitel des Buches von Daniel Defoe, das er 1722 als „fiktiven Dokumentarbericht“ verfasste, und das in Deutschland erstmals 1925 unter dem Titel Die Pest zu London erschien. Es gehört wie das Decamerone von Giovanni Boccaccio oder Die Pest von Albert Camus zur Weltliteratur und seit der Pandemie offenbar zur Pflichtlektüre für Theaterautoren. Das ist naheliegend, denn zur aktuellen Pandemie gibt es noch keine fiktionale Literatur. Diese Schrecken müssen spätere Generationen aufarbeiten. Auch Szabó hat sich mit Defoes Werk beschäftigt. Und er hat ein wesentliches Merkmal herausgearbeitet, das infolge jeder gesundheitlichen Bedrohungslage der Weltbevölkerung entsteht und oft genug zu schlimmeren Folgen führt als die gesundheitlichen Auswirkungen. Die Einsamkeit trifft alle. Seien es die Kranken, die einsam dahinsiechen, seien es die Angehörigen, die zurückbleiben, oder auch die Entscheidungsträger, die ihre Maßnahmen allein vor sich verantworten müssen, auch wenn sie Millionen von Menschen betreffen. Gelänge es dem Menschen, die Einsamkeit zu überwinden, bräuchte es keinen Gott mehr. Und es sieht ja alles so aus, als seien wir auf einem guten Weg dahin. Zwar schreitet die Individualisierung scheinbar erfolgreich fort, aber auch die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz und so genannter Sozialer Roboter scheint immer näher zu rücken. Szabó verwebt Pandemie, Einsamkeit und Soziale Roboter zu einer dichten Geschichte, die er als das Spiel „Pandemixer“ präsentiert und die in einer Auktion endet, bei der die Zuschauer gleich ihren Roboter ersteigern können. Wir schreiben das Jahr 2050. Claire hat ihren Mann bei einer neuerlichen Pandemie verloren. Anschließend kommt sie 28 Tage in Quarantäne, erkrankt und liegt zwei Monate im Koma. Sie verlässt das Haus nicht mehr, in dem ihr zwei Roboter Gesellschaft leisten. Sie gründet die Firma Brain Future Company Unlimited, die solche Roboter vertreibt. Übrigens hat hier die Wirklichkeit schon die Zukunft überholt. In der japanischen Stadt Fujieda werden bereits Roboter eingesetzt, um der Vereinsamung entgegenzuwirken.

Theresia Erfort – Foto © Mike Kleinen

Will man an dem Stück inhaltliche Kritik üben, muss sie darin liegen, dass Szabó eine solche gesellschaftliche Entwicklung gar nicht mehr hinterfragt. Für hoffentlich die meisten Menschen muss es eigentlich eine Horrorvision sein, in Zukunft Roboter oder noch schlimmer neuronale Netze erwerben zu müssen, um noch in Gesellschaft zu sein. Hier wird der Solidaritätsgedanke endgültig aufgegeben. Was im Übrigen auch bedeutet, dass immer mehr Menschen durch das soziale Netz fallen werden. Denn solche Lösungen werden niemals auf Kosten einer Krankenkasse erreicht werden, sondern einigen wenigen vorbehalten bleiben, die das bezahlen können. Da müsste es doch eigentlich erste Menschenpflicht sein, solche Entwicklungen zu hinterfragen und nach Wegen zurück zur Solidarität zu suchen.

Das Handlungstheater verkommt immer mehr zum Erzähltheater. Das ist auch im Kölnler Orangerie-Theater nicht viel anders. Was das Stück Pest vs. Robot kilometerweit von anderen Produktionen abhebt, ist die Fantasie, die ihm innewohnt. Es vergeht kaum eine Sekunde, in der nicht irgendein Detail die Aufmerksamkeit des Zuschauers fesselt. Die Guckkasten-Bühne wirkt aufgeräumt, aber detailreich. Rechts führt ein Maschendraht-Gang von vorne nach hinten. Im hinteren rechten Drittel ist eine Betonmischmaschine auf einem Podest aufgebaut, links davon gibt es ein weiteres Podest, auf dem Pflanzen aufgestellt sind. Vorne links nimmt der Musiker an einem Pult Platz, auf dem seine Computer Platz finden. Die drei Wände nutzt der Regisseur, der auch für die Bühne verantwortlich ist, für flächendeckende Projektionen. Allerdings überfrachten die Projektionen, für die József Iszlai, der auch die wunderbare Begleitmusik erzeugt, und Ivó Kovács zeichnen, den Zuschauer nicht mit Informationen. Nach einleitenden Bildern, die Fleischmärkte vermutlich in Asien zeigen und auf den Spillover-Effekt der Pandemie verweisen, entstehen „live generierte Klanglandschaften“, also musikalisch bewegte Grafiken, die Stimmungen unterstreichen. Aber mehr eben auch nicht. Und das ist gut so.

Boshi Nawa – Foto © Mike Kleinen

Denn was auf der Bühne passiert, ist schon spannend genug, weil Szabó einen Trick anwendet. Wo es keine Handlung gibt, verordnet er den Schauspielern eine Bewegungssprache, die fantasievoller ist als jeder Volksauflauf mit 200 Statisten. Theresia Erfort zelebriert als Claire eine ästhetisierte Formensprache, deren Bann man sich kaum entziehen kann. Da scheint jede Geste ihre Erzählung zu ergänzen. Ihre ätherische Erscheinung überstrahlt den Abend. Eine glanzvolle Leistung, die man lange nicht mehr gesehen hat. Sie erzählt ja gar nicht viel Neues, denn der Autor greift hier auf Zitate aus altbekannter Literatur zurück, aber wie sie es erzählt! Da gerät der Abend in ein unglaubliches Spannungsfeld von Poesie und Erotik. Da geht nicht nur der Atem der Männer im Publikum schneller. Daran ändert auch nichts, dass sie sich später als Verkäuferin entpuppt. Auch Maximilian von Mühlen besticht mit seiner Pest-Erzählung, wenn auch auf anderem Wege. Während er höchst glaubwürdig aus Defoes Werk erzählt, ist sein Mund mit Pech beschmiert, der weiße Anzug mit Pech überzogen, fallen ihm plötzlich Fleischerhaken zu Boden, taucht ein diabolischer Schwanz auf und Infusionsleitungen, die eigentlich medizinische Hilfe versprechen, lassen aus den Anzugtaschen die flüssigen Medikamente sinnlos auf den Boden laufen. Seine ganz andere Seite zeigt er später als Roboter Sophia, wenn er sich als charmanter Begleiter Claires entpuppt. Boshi Nawa erfüllt nicht nur die Rolle des Hausdieners, er hat auch den Bühnenbau zu verantworten, und wer genau hinschaut, wird entdecken, dass die Knoten seines Kostüms ebenfalls von niemandem sonst angefertigt worden sein können. Als Roboter Bob fallen ihm auch einige Sätze zu. Aber sein Auftritt ist schon eindrucksvoll genug.

Dass ein einstündiges Stück nicht ohne Brüche auskommt, wenn es eine Geschichte erzählen will, scheint nicht nur klar, sondern beinahe notwendig. Und hier ist es willkommene Gelegenheit, als Zuschauer aus der poetischen Verzauberung zurückzufinden. Am abschließenden Glücksspiel hat das Publikum jedenfalls viel Spaß. Und so klingt der Abend harmonisch unter langanhaltendem Applaus aus. Szabó und sein Team dürfen für sich verbuchen, in diesem Jahr einen Glanzpunkt in den Aufführungen der so genannten Freien Szene gesetzt zu haben.

Michael S. Zerban