O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Rundgang im Musiklabor

ONE WOMAN EXPERIMENTAL MUSIC CIRCUS
(Diverse Komponisten)

Besuch am
29. Oktober 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Alte Feuerwache Köln

Das Marketing macht es. Da werden Personen wie Lang Lang oder Katja Buniatišvili durch die großen Konzertsäle dieser Welt gereicht, um seit Jahrhunderten altgedientes Repertoire aufzupolieren. Schaut man in den Saal, sieht man zumeist ältere oder alte Herrschaften, die in sich zusammengesunken mit geschlossenen Augen und tiefer Andacht den Klängen lauschen. Pianisten, die sich diesem Betrieb verschließen, obwohl sie in ihrer Virtuosität keineswegs weniger wert sind, bleiben chancenlos. Sie können sich noch so großartige Programme ausdenken. Solche Menschen trifft man in der so genannten Freien Szene. Eine davon ist Dorrit Bauerecker.

Die Pianistin, Akkordeonistin und Toy-Piano-Liebhaberin hat sich der zeitgenössischen Musik verschrieben. So etwas trauen sich Menschen, die keine große Karriere im Sinne eines möglichst hohen Gelderwerbs planen, sondern eine Vision haben. Vielleicht mögen sie auch nur Quietsche-Entchen mehr als Bach. Bauerecker jedenfalls hat die Zeit des Lockdowns genutzt. Weil Konzerte nicht möglich waren, um ihr neues Album vorzustellen, ging sie kurzerhand mit einem abendfüllenden Programm online. Gereicht hat ihr das nicht. Denn die Aufzeichnung musste ohne Publikum stattfinden. Jetzt lädt sie mit geändertem Szenario in die Alte Feuerwache Köln ein. Die kleine Tribüne füllt sich spät, aber immerhin so, dass eine zusätzliche Stuhlreihe eingesetzt werden muss.

Chris Grammel hat die Szene neu eingerichtet. Eine weiße Hohlkehle füllt die Hälfte der Bühne diagonal. Darauf angeordnet verschiedene Instrumentenstationen. Später wird die weiße Hochwand für interessante Effekte gut sein. Bis dahin blenden neun Scheinwerfer das Publikum frontal, so dass von Bauerecker kaum mehr als ein Scherenschnitt erkennbar ist. Sie wandelt über die Bühne, überprüft hier eine Taste, richtet dort ein Instrument nach oder kontrolliert den Stand eines Stuhls. Dabei zählt sie halblaut mal bis acht, mal bis drei. Das Ganze hat etwas Surreales, würde sich gut in einer Psychiatrie-Szene eines Indie-Films machen.

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Mit einer viertelstündigen Verspätung kann One Woman Experimental Music Circus endlich beginnen. Bauerecker hat sich entschlossen, das Konzert schweigend über die Bühne zu bringen und eröffnet mit Mirabella, einer Tarantella für Toy Piano, von Stephen Montague aus dem Jahr 1995. Toy Pianos sind jene Spielzeugklaviere, die man kleinen Kindern in ihr Zimmer stellt, damit sie darauf herumklimpern können. Es wird also bei der Herstellung solcher kleiner Kästen nicht wirklich viel Wert auf den Klang gelegt, und gerade in der fehlenden Perfektion liegt die Herausforderung für den Pianisten, einen halbwegs anhörbaren Klang zu erzeugen. Bauerecker erweist sich schon im ersten Stück als Meisterin.

Mit Gichtgriffel und Achterbeene, das Niklas Seidl 2016 komponierte, bringt die Musikerin eines der stärksten Stücke des Abends auf die Bühne. „Die Beine, die sind das Wichtigste“: Zu den Klängen von Schifferklavier und Fußpedale werden Originalaufnahmen von Hamburger Obdachlosen eingespielt, die einem das Lächeln auf den Lippen gefrieren lassen, wenn sich die flapsigen Sprüche zu einer menschlichen Situation verdichtet, die kaum unmenschlicher sein kann. Seidl unterstreicht mit der Musik die Einspielungen, er kommentiert sie nicht. Und gerade deshalb ist das Werk ungeheuer eindrucksvoll.

Anschließend betritt ihr Gast die Bühne. Es ist der Komponist Moritz Eggert, von dem sie an diesem Abend gleich drei Stücke interpretiert. Auch ihn begrüßt die Musikerin nicht, sondern greift stattdessen das Intelligenzspiel auf, das der Mann aus München ihr beim Betreten der Bühne anbietet. Einer beginnt, eine Zahlenreihe in beliebiger Reihenfolge aufzusagen, während sein Gegenüber eine ähnliche Zahlenreihe „gegenzählt“. Das Ganze kann beliebig variiert werden. Was wie ein alberner Kinderspaß klingt, erfordert ein Höchstmaß an Konzentration und Improvisationsfertigkeit. Vor allem, wenn es wie bei den beiden als kleiner Scherz am Rande klingen soll. Alsbald entfernt Eggert sich hinter die Bühne, und so kann Bauerecker sein erstes Stück interpretieren. One Man Band II stammt aus dem Jahr 2009 und stellt ziemliche Anforderungen an den Interpreten. Mit Fingerfertigkeit, dem Einsatz von Hintern und Brust auf der Klaviatur, Mundharmonika und Quietsche-Entchen ist es sicher nicht nur ein Verdienst des Komponisten, sondern auch des Interpreten, dass daraus strukturierte Musik wird.

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Wie sich La poule von Jean-Philippe Rameau in das Programm schleichen kann, bleibt geheimnisvoll. Schließlich stammt der virtuose Klavierspaß aus dem Jahr 1726. Vielleicht gibt es auch gar keinen besonderen Grund, sondern das Stück klingt einfach grandios, wenn Bauerecker ihm eine besondere Dynamik verleiht. Auch jetzt applaudiert das Publikum wieder, obwohl die Musikerin den Applaus komplett missachtet und zum Ausdruck bringt, dass es hier noch nichts zu feiern gibt, weil ja noch großartige Stationen in diesem Musiklabor warten. Wie beispielsweise One Woman Band, brandneu im vergangenen Jahr entstanden. Und wieder verlangt Eggert dem Interpreten eine Menge ab, bis hin zum schier Unmöglichen. Auch ist das Stück nicht einfach so gespielt, sondern bedarf exakter Vorbereitungen. Nachdem die hochhackigen Stiefel angezogen sind, die Kaffeemahlmaschine befüllt und der Wasserkessel mit Pfeife auf der Herdplatte platziert ist, kann es losgehen. Die Einspielungen vom Tablet sind mit Fingerdruck erledigt, aber die Zeit so zu gestalten, dass mit dem letzten Ton das Pfeifen des Wasserkessels erklingt, grenzt schon an ein Kunststück. Das Publikum nimmt diese Dinge mit viel Humor. Eggert trägt hier Eulen nach Athen, gilt doch Köln als eine der wichtigsten Brutstätten der so genannten neuen Musik. Und die damaligen Komponisten nahmen das verdammt ernst. Aber: Auch der humorlose Hörer kann dem Stück eine Menge abgewinnen.

Das gilt auch für ein Werk, das die Kölner Komponistin Oxana Omelchuk 2016 geschrieben hat und das durchaus als typisch für ihre Arbeit gelten kann. Mit Akkordeon, zwei Casio Keyboards und Melodica bringt Bauerecker gfätterle zu Gehör. Vergleichsweise einfach, aber dafür tatsächlich einfach ein riesiger Spaß für das Publikum ist das Stück East Broadway von Julia Wolfe aus dem Jahr 1996. Denn hier verbindet die Gastgeberin des heutigen Abends das Toy Piano mit einer Toy Boombox. Die spuckt Licht und den Schriftzug Boom impulsgetrieben aus. Mit dem letzten Stück betritt Eggert abermals die Bühne. Denn bei seinem dritten Werk des Abends, Dual Band, ebenfalls erst im letzten Jahr entstanden, reicht ein Pianist wirklich nicht mehr aus. Auf dem Flügel sind zwei Bongos und ein Toy Piano aufgebaut. Die bedient Eggert und greift nebenbei in den Flügel, während Bauerecker den Hauptteil des Stücks an der Klaviertastatur und mit Gesang bestreitet. Dramaturgisch darf man das zu Recht als gelungenes Finale des Abends betrachten. Mit der Zugabe, einer Variation über Blackbird von Paul McCartney, die der Kölner Musiker Axel Lindner für Bauerecker arrangierte, ist ein großartiger Abend Geschichte.

Das Publikum ist endlos begeistert. Nach langanhaltendem Applaus warten die Besucher darauf, dass Dorrit Bauerecker endlich hinter der Bühne hervorkommt, um sich bei ihr persönlich für einen erfüllenden, überraschenden und stimmigen Abend zu bedanken. So darf zeitgenössische Musik klingen: anspruchsvoll und unterhaltsam. Weitere Termine gibt es bislang nicht, aber es lohnt sich mit Sicherheit, Ausschau danach zu halten.

Michael S. Zerban