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Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Die Grenzen des Interpreten

ONE WOMAN EXPERIMENTAL MUSIC CIRCUS
(Diverse Komponisten)

Gesehen am
21. Mai 2021
(Premiere am 7. Mai 2021)

 

Altes Pfandhaus, Köln

Das Gebäude der ehemaligen Pfandkreditanstalt der Stadt Köln, 1820 gegründet als Leihhaus und Sparkasse, aufgelöst 1999, ist den Kölner heute besser bekannt als Kulturzentrum Altes Pfandhaus und liegt in der Südstadt. Hier fand die Aufzeichnung von Dorrit Bauereckers One Woman Experimental Music Circus statt, die am 7. Mai ausgestrahlt wurde. Bauerecker ist in Braunschweig geboren. Mit neun Jahren begann sie, Akkordeon zu spielen, was später zugunsten des Klaviers zurückgestellt wurde. In Hannover und Köln studierte sie dann Instrumentalpädagogik mit Hauptfach Klavier. Köln wurde dann vor mehr als zwei Jahrzehnten auch ihre neue Heimat. Seit Studienende arbeitet sie als selbstständige Musikerin im Bereich der neuen Musik, wobei ein Hauptbestandteil ihres Schaffens ist, neue Konzertformate zu entwickeln. Das kann bis zum politischen Kabarett oder zur Kombination von Choreografie und Musik gehen. Kürzlich ist ihr neues Album One Woman Band erschienen. Um den Verkauf eines neuen Albums voranzutreiben, ist es wichtig, das Programm anschließend in möglichst vielen Konzerten vorzustellen. Die konnten nicht stattfinden.

Daher entschloss Bauerecker sich, ihr neues Programm wenigstens im Livestream zu zeigen. Chris Grammel entwickelte dazu Konzept und Regie. Für die Bühnenausstattung lieh die Musikerin sich Pflanzen, Schneiderpuppen und anderes Dekorationsmaterial, um den Bühnenraum zum großzügigen Wohnzimmer zu gestalten. In der Mitte des Raums dominiert der Flügel, andere Instrumente des virtuellen Wandelkonzerts – so der Untertitel – sind an anderen Stationen im Raum verteilt. Denn neben Klavier und Akkordeon gibt es noch ein drittes Instrument, das Bauerecker leidenschaftlich bespielt: das Toy Piano. Diese Klaviere sind so klein wie empfindlich und ganz sicher nicht leicht so zu bespielen, dass der Ton auch gefällt.

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Für die Moderation des gut einstündigen Abends hat die Solistin die Regisseurin Frauke Meyer gewinnen können. Die wählt als „roten Faden“ sehr naheliegend den Zirkus, was schwierig durchzuhalten ist und so ein bisschen aufgesetzt klingt. Da Meyer außerdem sehr freihändig arbeitet, sind die Moderationen oft ein Stück weit von ihrer Relevanz entfernt. Ärgerlich wird es in Ermangelung eines Programms, wenn die Titel der Stücke nur so dahingenuschelt werden, dass man sie allenfalls erahnen kann. Und so ganz „one woman“ ist die Show dann doch nicht, denn Bauerecker hat den Komponisten Moritz Eggert dazu gebeten, von dem an diesem Abend gleich zwei Uraufführungen zu hören sind.

Zunächst eröffnet Bauerecker aber mit Mirabella von Stephan Montague auf dem Toy Piano. Damit steckt sie das Niveau des Abends gleich recht hoch. Denn was sie dem eigenwilligen Instrument abverlangt, lässt einen staunen. Da wird die Tastatur mit Kraft und Virtuosität bearbeitet, so dass es richtig „groovt“. Nach diesem eindrucksvollen Einstand erläutert Eggert seine Absicht, die hinter seinen Kompositionen des heutigen Abends steckt. Ihn interessiere die „komplette Entgrenzung des Pianisten“, der sich bei seinen Stücken so weit echauffieren solle, dass er darüber das Publikum vollständig vergesse. Denn so sei seiner Ansicht nach die Grenze zwischen Publikum und Interpret aufzuheben. Und tatsächlich ist Bauerecker in One Woman Band mit Flügel, elektrischer Kaffeemühle, Singstimme, der Zuspielung von Geräuschen wie dem Schreien eines Babys oder dem „anerkennenden“ Pfiff eines Mannes sowie auf der Herdplatte stehendem Kaffeewasser auf das Äußerste gefordert, ohne dass sie sich das anmerken ließe.

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In ganz anderer Hinsicht durch Mark und Bein geht das Stück Gichtgriffel & Achterbeene von Niklas Seidl, das Bauerecker in einem Außenraum auf dem Akkordeon mit Perkussion und eigener Stimme präsentiert. Dazu werden Originalzitate von obdachlosen Alkoholikern offenbar aus dem norddeutschen Raum eingespielt. Das ist im ersten Moment vielleicht noch lustig, wenn etwa jemand sagt, dass er irgendwann verstanden habe, dass sein Alkoholkonsum und seine Arbeit nicht zusammenpassten und er deshalb dann seine Arbeit gekündigt habe. Am Ende aber bleibt ein beklemmendes Gefühl zurück. Großartig gemacht. Das folgende Stück von Julia Wolf ist für Bauerecker nach eigenen Worten die „volle Reizüberflutung“. Dabei sitzt sie am Toy Piano vor einer Boom Box, einer Kombination aus Lichtorgel, Stroboskop und Geräuschquelle.

Eine Stunde ist sehr schnell vorüber, wenn Bauerecker sie gestaltet. Und schon ist mit der zweiten Uraufführung Dual Band von Eggert das Ende des Abends erreicht. Während die Künstlerin sich hier „nur noch“ auf die Tastatur des Flügels und ihre Stimme zu konzentrieren braucht, sekundiert Eggert mit Toy Piano, Trommeln, Zeitung und Faszienrolle. Schwungvoll geht die Aufführung zu Ende.

Susanne Diesner ist für Kameraführung und Bildregie zuständig. Sie sorgt für wirklich starke Bilder, so dass man sich nach der Aufführung eigentlich nicht so recht vorstellen kann, ob die Musik auch auf einer CD funktioniert. Vielleicht ist es eine gute Idee, das Video der Aufführung dauerhaft kostenpflichtig im Internet anzubieten.

Michael S. Zerban