O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Bezaubernde Dinge

ODE AN DIE DINGE
(Laura Saumweber, Paula Niehoff)

Besuch am
8. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Mikrotheater Studio 11, Köln

Nur wenige Meter von den Ehrenfeldstudios in Köln entfernt liegt das Mikrotheater Studio 11 in der Gravenreuthstraße. Maria Jachertz und Patricia Lempke, beide Theaterpädagoginnen, bieten hier Kurse für Laien an, in die Welt des Theaters hineinzuschnuppern, die in Aufführungen in dem Ein-Raum-Theater gipfeln. Um die Spielstätte zu finanzieren, wird sie auch gern an Außenstehende vermietet. Wie Laura Saumweber und Paula Niehoff, die hier ihre Proben absolvieren, wenn sie im Kölner Raum beschäftigt sind. Sie sind besonders gern gesehene Gäste. „Die haben eine tolle Energie“, schwärmt Lempke.

Diese Energie wollen die beiden Tänzerinnen heute in Form einer Aufführung versprühen. Saumweber absolvierte ihre Ausbildung im Bühnentanz in Barcelona und beendete ihr Studium an der ArtEZ University of Arts im niederländischen Arnheim. Hier absolvierte auch Niehoff ihren Bachelor, nachdem sie eine erste Ausbildung an der Münchner Iwanson International School of Contemporary Dance genossen hatte. Beiden gemeinsam ist die Liebe zum Tanztheater. Und so entstand 2020 das Tanztheater Umgekehrt unter Mitwirkung des Komponisten Florian Sonnleitner. Ein Jahr später gab es die zweite Produktion Über die Dinge. 55-mal spielten die beiden überwiegend unter freiem Himmel in sozialen Einrichtungen Bayerns und Nordrhein-Westfalens. Mittlerweile haben sie Über die Dinge überarbeitet und für die Bühne eingerichtet. Im Mikrotheater Studio 11 zeigen sie jetzt die Ode an die Dinge.

Paula Niehoff – Foto © O-Ton

In unserer Zeit verlieren die Dinge im Alter zunehmend an Bedeutung. Das Schlafzimmer der Eltern ist nach deren Tod in den Sperrmüll gewandert, das Geschirr der Großeltern auf dem Flohmarkt gelandet, den Pelzmantel von der Tante traut sich niemand mehr anzuziehen, um nicht mit Farbe besprüht zu werden. Was in der eigenen Wohnung steht, ist sehr teuer bezahlt, hat aber seinen Wert schon beim Einzug verloren. Und mitnehmen kannst du eh nichts. Saumweber und Niehoff haben eine andere Sicht auf die Dinge. Sie legen ihrem Stück die Odas elementares von Pablo Neruda aus dem Jahr 1954 zugrunde. Ein Gedichtzyklus, in dem er auf das Genre des Lobliedes zurückgreift, um ein Lied der alltäglichen Wirklichkeit und der weltlichen Dinge zu schaffen. Neruda wirft einen intimen Blick auf die Dinge, erkennt aber ihren wunderbaren äußeren Status. Diese Dinglichkeit hat ihn in drei Büchern über drei Jahre beschäftigt. Und jetzt setzen sich die beiden Choreografinnen damit auseinander.

Trude und Rosalie, herrliche Namen für zwei Bühnenfiguren, betreten nacheinander das Spielfeld. Rosalie aka Niehoff ist die Sorgsame, die Behütende, die sich um eine Nippes-Tasse kümmert, als gelte es, Leben zu bewahren. Trude alias Saumweber gibt die Wilde, die Ungezügelte, die Respektlose, die gleich mit einem ganzen Stapel an Dingen auf den Schultern die Bühne betritt. Da gibt es einen Beistelltisch, einen Hocker, einen Regenschirm; des Weiteren werden aus den Taschen des Pelzmantels Löffel, Kaffeemühle und andere Kleinteile gezaubert. Irgendwoher taucht ein Hut auf. Ein Hut ist einer der denkbar persönlichsten Gegenstände. Er ziert den Träger, bedarf der ständigen Obacht und ist alsbald ein Gegenstand, mit dem man eine Vielzahl von Erinnerungen verbindet. Aber bis zu dieser Erkenntnis dauert es noch eine Weile.

Laura Saumweber – Foto © O-Ton

Vorerst müssen die Dinge befühlt, betastet, sortiert werden. Bei der Frage der Sortierung gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen der beiden Akteure. Und so finden sich die einzelnen Teile in immer neuen Anordnungen wieder. Das ist ausgesprochen durchdacht. Unmerklich liegen sie bald kumuliert, bald in einer Reihe, letztlich im Kreis auf der Bühne, ohne dass der Zuschauer so recht bemerkt, wie das in der tänzerischen Bewegung geschieht. Saumweber braucht eine Weile, bis sie, lediglich mit historischer Unterwäsche bekleidet, in Rock und Oberteil findet, während Niehoff sich von Anfang an sehr züchtig gekleidet zeigt. Einmal auf Augenhöhe angekommen, wird auch Rosalie scheinbar zahmer, bis der Streit um – na klar, den Hut entbrennt. Eine wunderbare Gelegenheit, sich in neue tänzerische Verflechtungen zu begeben. Dabei darf dann auch Niehoff die altertümliche Unterwäsche zeigen. Das Spiel zwischen Poesie und Humor ist kurzweilig, tänzerisch durchdacht und wird vom unsichtbaren Team im Hintergrund tatkräftig unterstützt.

Sonnleitner findet eine Mischung aus eigenen Kompositionen, Chanson und Einspielungen gesprochenen Wortes, beispielsweise wenn es um eingehende Telefonate oder Worte aus dem Off geht. Ingo Jooß gibt das Lichtdesign vor, das einfach, aber eindrucksvoll funktioniert. Mehr geht bei einem Tourneetheater nicht. Und es überfordert auch Jachertz und Lempke nicht, die die Technik während der Aufführung besorgen.

Im Publikum sind alle Altersgruppen vertreten, ganz so, wie es dem Anspruch von Saumweber und Niehoff entspricht. Dass die Kinder während des einstündigen Auftritts nicht zu hören sind, spricht Bände. Die Alten bleiben nach ausführlichem Applaus noch eine ganze Weile sitzen und genießen den Nachhall. Nein, man möchte nach diesem Tanztheater nicht aufspringen und davonrennen, sondern gern noch eine Weile über das Gezeigte sinnieren. Weil das Ungewöhnliche Zeit braucht, um zu sacken.

Michael S. Zerban