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Unter dem Eindruck der Weimarer Erstaufführung der Azione tragico-sacra, rund zehn Jahre nach der Uraufführung von Mosè in Egitto 1818 in Neapel, wettert Goethe im privaten Kreis gegen das „Kirchenhafte“ in dem Werk: „Sowie der Vorhang aufgeht, stehen die Leute da und beten. Dies ist sehr unpassend.“ Auf dem Theater, moniert der Dichterfürst, „soll man nicht beten.“ Was Goethe als „absurd“ kritisiert, ist musikgeschichtlich ein eleganter Kunstgriff, der dem jungen Rossini überhaupt erst die Aufführung seiner Komposition während der Fastenzeit im katholischen Italien sichert. Staat und Kirche haben sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts verständigt, solchen Opern die jahrzehntelang vor Ostern geschlossenen Theater zu öffnen, die biblische Inhalte aufweisen. Diese Auflage erfüllt Rossini nach seinem Oratorium Ciro in Babilonia sechs Jahre zuvor für Ferrara mit seiner oratorischen Oper allemal. In Köln geht man dem Dilemma eines Hochamts der Oper konsequent aus dem Wege, insofern sich die Intendanz für ein dramaturgisches Konzept einer eigenen Theatersprache entscheidet. Ein innovatives Unterfangen, das aber in dem Maße, wie es eigene Maßstäbe entwickelt, auch wieder viel verspielt.
Der Stoff des Librettos von Andrea Leone Tottola thematisiert die Unterdrückung der Hebräer durch die Ägypter und ihren Exodus zurück in das Gelobte Land durch das Rote Meer, dessen Fluten sich vor dem israelischen Volk auftun, aber die Ägypter verschlingen. Die Befreiung gelingt dank Mosé, ihrem Anführer. Ihm wird die Fähigkeit zugeschrieben, den Fluchtweg durch Anrufung Jahwes, des jüdischen Gottes, zu eröffnen. Weil sich all das nicht in einem klassischen Oratorium ereignet, sondern in einer Oper italienischen Stils, ist in die öffentliche Episode die private Liebesgeschichte zwischen Osiride, dem Sohn des Pharaos, und der Hebräerin Elcia eingewebt. Dieser dramaturgische Grundeinfall kommt Rossini mehr als entgegen. Erlaubt ihm dieser doch, die spektakuläre Geschichte mit ihren gewaltigen Klage- und Freudengesängen und ihrem intimen Ringen um Liebe und Gefolgschaft adäquat zu strukturieren. Alles Biblische überweist der Komponist groß angelegten Chorszenen. Alles Private bleibt Arien und wundervollen Duetten und Terzetten vorbehalten, die die kommende Hochblüte des Belcanto um Bellini vorwegzunehmen scheinen.
1818 hat „Monsieur Crescendo“, wie er später in Paris begrüßt werden wird, seinen eigenen Stil bereits gefunden, sowohl im Fach der Seria wie der Buffa. Die Mosè-Partitur ist gespickt mit all den Raffinessen, die zuvor einer ganzen Phalanx von Kompositionen von Tancredi über Il Barbiere bis hin zu La Cenerentola zum Erfolg verholfen haben. Rossini bringt seinem Mosé so viel Wertschätzung entgegen, dass er ihn 1827 in Paris in einer französischen Fassung zu einer Grand Opéra erweitert. Zu dem Zeitpunkt pfeifen die Italiener das patriotische Gebet Dal tuo stellato soglio, mit dem Mosé die fliehenden Hebräer zu Gottvertrauen aufruft, bereits auf den Straßen und Plätzen. Rossini fügt es bei der ersten Überarbeitung seines Werks in die Partitur ein.
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Musikalisch, wie sich spätestens mit dem furiosen Finale des ersten Aktes zeigt, lohnt auf jeden Fall die Anstrengung, die Trouvaille neu zu beleben. Problematisch indes muss wohl der Ansatz genannt werden, das Exodus-Kapitel in einer ahistorischen, quasi überzeitlichen Aneignung auf die Bühne zu bringen. Hierfür zeichnen Regisseurin Lotte de Beer und das Rotterdamer Figurentheaterkollektiv Hotel Modern. Mit de Beer hat die Oper Köln, die bei dieser Produktion mit den Bregenzer Festspielen kooperiert, eine Regisseurin verpflichtet, die unbestreitbar ihren eigenen Weg geht. Sie verfällt nicht wie 2011 Graham Vick in Pesaro der letztlich simplen Verführung, das Szenario in der Aktualität des Konfliktes zwischen Palästinensern und Israelis anzusiedeln. Moses agiert da als Anstifter von Selbstmordattentaten, die die Spirale von Gewalt und Gegengewalt bedienen. In Köln – und das ist der springende Punkt – hält mit de Beer eine Regisseurin die Fäden in der Hand, die der Musik Rossinis gehörig misstraut.
Um das Geschehen aus seiner legendenartigen Fixierung zu befreien, zieht sie der Inszenierung wie schon 2017 im Vorarlberger Festspielhaus eine zweite Ebene ein. Der primäre Schauplatz, eine von Christof Hetzer, verantwortlich für Bühne und Kostüme, geschaffene und von Alex Brok matt ausgeleuchtete Wüste, ist zugleich die Spielfläche von korrespondierenden Miniaturwelten, die Hotel Modern aus winzigen Puppenfiguren mit starren Köpfchen erschafft. Diese Miniaturwelten, ein krasser Gegensatz zu den übermächtigen Darstellungen der biblischen Plagen wie Finsternis, Heuschrecken, Dürren werden von dem Theaterkollektiv just in time auf winzigen Gestellen hervorgebracht und auf eine übergroße Kugel im Bühnenzentrum projiziert. Diese lässt sich als Sonnenscheibe, Symbol der Pharaonenmacht, oder als neuzeitliches Radar interpretieren. Das Resultat sind durchaus ausdrucksstarke Bilderwelten mit einer eigenen Suggestivkraft. Im Verlauf von Handlung und Oper entwickeln sie aber immer mehr ein Eigenleben, das sich von dem mythischen Geschehen des Musikdramas entfernt.
Dieser kontraproduktive Effekt wird im Übrigen durch die Puppenspieler in Arbeitskleidung, die sich unter den Sängerdarstellern bewegen, noch weiter verstärkt. Mit ihrer Handarbeit, dem diffizilen Steuern der Püppchen an feinen Drähten, sind sie ja noch lange nicht ausgelastet. Wie von einer unsichtbaren Kommandozentrale gesteuert, agieren sie als Platzanweiser für die Sänger und den mächtigen, in zwei Lager geteilten Chor. Wenn sie obendrein im neuen Berufsfeld von Posendesignern Hand anlegen an Haltung und Outfit der Sänger, nimmt das geradezu alberne Züge an. Für die Durchdringung der Musik Rossinis, die von sich aus bereits Bewegung, Tempo und dynamisches Accelerando in Gang setzt, bringt der schon notorische Hang zur Erzeugung permanenter Unruhe nichts. Im Endeffekt wird auf dem Altar einer solipsistischen Regieidee der Spirit der Azione tragico-sacra, die Musik, geopfert, am Ende verspielt.
Foto © Paul Leclaire
Abgesehen von der stimmlich famosen Adriana Bastidas-Gamboa in der Rolle der Pharao-Gattin Amaltea, seit rund einem Jahrzehnt Ensemblemitglied der Oper Köln, sind die Sängerinnen und Sänger in den Hauptpartien Gäste, die durchweg mit hoher Rossini-Affinität und vokaler Virtuosität glänzen. Die Tatsache, dass sie sich jeweils in Rollendebüts auf der Bühne im Saal zwei des Staatenhauses präsentieren, fällt so überhaupt nicht ins Gewicht. Italienischen Stil vom Feinsten steuert insbesondere das Liebespaar bei. Mariangela Sicilia macht als Elcia mit glockenreinem, strahlendem Sopran und eleganten Koloraturen dem engelsgleichen Versprechen ihres Vornamens alle Ehre. Anton Rositskiy eignet als Osiride ein angenehmes Timbre, das ihn für jede Rossini-Seria prädestiniert. Gäbe es da nicht die unleidliche Attitüde, der Stimme immer wieder in die Höhe hin zu viel Parforce zu verleihen.
In den Hauptrollen bleiben beide Antipoden, der Faraone Joshua Blooms, und der Mosè Ante Jerkunicas, nichts schuldig. Die Palme des Abends dürfte im Zweifel dem prachtvollen mächtigen Bass Jerkunicas zugesprochen werden, der auch im äußeren Erscheinungsbild, einer Jesus-Darstellung ähnelnd, als Anführer des Volkes imponiert. In den weiteren Rollen sticht der Sunnyboy Dladla als Aronne mit schlankem, subtil geführtem Tenor hervor. Sara Jo Benoot als Amenofi und Young Woo Kim als Mambre ergänzen das vokale Ensemble prächtig.
Das Gürzenich-Orchester Köln unter dem Rossini-versierten Dirigenten David Parry, im Saal seitlich links von der Bühne positioniert, bewältigt die stürmischen wie die lyrischen Passagen des jungen Wilden, der der Komponist zur Zeit der Uraufführung noch ist, mit Bravour. Die über Monitore organisierte Abstimmung mit dem Sängerensemble funktioniert. Ebenso mit dem von Andrew Ollivant blendend einstudierten Chor der Oper Köln, der die Steilvorlage der Partitur mit Vehemenz und Hingabe annimmt und so den Volksgruppen auch im Konflikt Würde und Identität verleiht. Wer sich von der Aufführung eine inspirierende Begegnung mit der Spumante- oder Champagnermusik dieser cosa rara versprochen haben sollte, dürfte einen unterhaltsamen Abend erlebt haben. Wer vom Musiktheater immer mehr multimediales Opernkino, die Show, erwartet, wird auf alle Fälle auf seine Kosten gekommen sein. Die Mehrzahl im Publikum müsste wohl nach Art und Verteilung des begeisterten Beifalls der zweiten Gruppe zuzuordnen sein. Der Oper Köln in ihrer besonderen Situation in Zeiten von Übergangsquartieren wird beides recht sein.
Ralf Siepmann