O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Hans Diernberger

Aktuelle Aufführungen

Grenzübertritt

MIRA 9 – WAS UNS TRENNT & BINDET
(Julia Riera)

Besuch am
10. September 2020
(Premiere)

 

Kunsthaus Rhenania, Köln

In Köln gibt es kein Tanzzentrum wie etwa das Tanzhaus NRW in Düsseldorf oder die Fabrik Heeder in Krefeld. Möglicherweise könnte sich die Tanzfaktur da weiterentwickeln, aber in diesen Tagen sind andere Fragen wohl drängender. Das führt zu einer Situation, die manch einer vielleicht sogar als reizvoll betrachten mag. Wer sich für zeitgenössischen Tanz in Köln interessiert, muss sich selbst bewegen. Über das gesamte Stadtgebiet verteilt findet man hier Aufführungen. Ob die Wachsfabrik irgendwo am Stadtrand, die Ehrenfeldstudios, die Orangerie am Volksgarten, die Tanzfaktur in Deutz, Kirchen oder Freiflächen – man kommt ganz schön rum, wenn man die hochwertigen Tanzproduktionen der Domstadt mitverfolgen will. Für die Compagnien ist das selten besonders spaßig, wenn Produktionen jedes Mal von Grund auf neu gebaut werden müssen. Nur ganz selten erweist es sich als Glücksfall wie jetzt für die Compagnie Mira. Sie musste eine Spielstätte finden, die besondere Merkmale aufweist, so dass sie ihre neueste Produktion Mira 9_was uns trennt & bindet von der Uraufführung in der vergangenen Woche in Krefeld – ebenfalls an neuer Spielstätte – nach Köln verlegen konnte. Im Kunsthaus Rhenania, mittlerweile Bestandteil des Rheinau-Hafens, gleich neben dem Schokoladenmuseum, wurde sie fündig.

Die Forderung, zeitgenössischer Tanz möge sich mit gesellschaftlich aktuellen Themen befassen, um zum gesellschaftlichen Diskurs beizutragen, möchte man derzeit nicht allzu laut vortragen. Schließlich will eigentlich keiner mehr was von Corona hören, sehen oder lesen. Und so hebt Julia Riera, Künstlerische Leiterin und Choreografin der Compagnie, das Thema auf eine Meta-Ebene und fragt nach den körperlichen und seelischen Beziehungen, also nach den Innen- und Außenwelten. Sie will tänzerisch umsetzen, wie und ob sich Netzwerke und Nähe auf Abstand bilden lassen. Ein Thema, das möglicherweise seiner Zeit voraus ist. Sind wir doch bislang mit der Krisenbewältigung beschäftigt und noch lange nicht bei deren Aufarbeitung angelangt.

Geraldine Rosteius – Foto © Hans Diernberger

Der Saal im Kunsthaus Rhenania ist langgestreckt, weiß gestrichen und von Säulen durchzogen. An der Außenseite, den beiden Stuhlreihen für die Besucher gegenüberliegend, gibt es eine durchgehende Fensterfront, das ausschlaggebende Kriterium für diese Spielstätte. An den Rändern sind zahlreiche Weißlicht-Scheinwerfer aufgestellt, deren Möglichkeiten des Lichtwechsels Wolfgang Pütz allerdings erstaunlich wenig nutzt. Technik und Musik sind am Kopfende des Saals aufgebaut.

Nach und nach erscheinen die Tänzer. Und man muss schon sehr genau aufpassen, um ihren Auftritt zum rechten Zeitpunkt mitzubekommen. Konzentrieren sich viele Zuschauer noch auf Mijin Kim, die im Kleidchen seltsam verloren vor der Fensterfront steht und sehnsuchtsvoll nach draußen starrt, hat Mark Christoph Klee seinen Auftritt auf der Außenseite der Fensterfront längst begonnen. Am andern Ende des Saals. Die Tänzer, so sehr sie sich aufeinander zu bewegen, können nicht zueinanderkommen. Und da helfen auch die immer wieder längs ausgestreckten Arme nicht. Kirill Berezovski tanzt entlang der Fensterfront auf dem Balkon davor in den Saal, hebt also gleichfalls leichterdings die Grenze zwischen Außen- und Innenwelt auf, ebenso wie schließlich Geraldine Rosteius, die auftritt wie eine Lichtgestalt. Die Kostüme von Thomas Wien-Pegelow bieten eine Palette von Blau bis Türkis und wirken eher wie die Freizeitkleidung, die wir während des Shutdowns getragen haben. Eines der Traumata, die wir aus dieser Zeit davontragen werden. Funktional ist eben doch nicht alles.

Wer über kurze Sporthosen und T-Shirts hinwegsehen kann, wird in der Dreiviertelstunde etliches eigener Bemühungen entdecken, Beziehungen oder moderner: Netzwerke aufzubauen. Die zahllosen Versuche, sich im Gleichschritt zu bewegen, abzuhetzen, erschöpft innezuhalten, um erneut die Arme auszustrecken, mittlerweile egal, nach wem, weckt schon Assoziationen. Und hoffentlich, so wird manch einer unwillkürlich denken, enden meine Aktivitäten nicht so wie die von Kim, die das Stück mit einem Solo abschließt. Zurückgeblieben in der Einsamkeit.

Philip Mancarella steuert seine Kompositionen von der Festplatte zum Geschehen bei. Dass er dabei immer wieder Pausen einlegt, ist gerade bei dem oft minimalistischen Duktus schade, zumal er mit den immer wieder eingespielten Schiffshörnern sogar so etwas wie ein Leitmotiv schafft. So wird es auch musikalisch ein erlebnisreicher Abend.

Der Applaus der 36 Besucher fällt reichlich und langanhaltend aus, sowohl für die Tänzer als auch für das Leitungsteam. Und manch einer der Besucher wird zum Telefon greifen, nachdem er den Saal verlassen hat. Da gibt es doch den einen oder anderen noch, den man längst mal wieder hatte anrufen wollen.

Michael S. Zerban