O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Heilig mitten im Leben

LUXX
(Bibiana Jiménez)

Besuch am
19. Juni 2022
(Uraufführung)

 

Innenhof Kartäuserkirche, Köln

Hildegard von Bingen wurde 1098 geboren und stolze 82 Jahre alt. Sie nutzte ihre Lebenszeit in vielfältiger Weise, immer aber im tiefen Glauben an Gott. So war sie Benediktinerin, Äbtissin, Dichterin, Komponistin und natur- und heilkundige Universalgelehrte. Dank ihrer „Visionen“ fand ihr Wort auch Geltung in der damaligen männerdominierten Gesellschaft. Nach ihrem Tod wurde sie heiliggesprochen und vor ein paar Jahren zur Kirchenlehrerin erhoben. Ihre weltweite Verehrung ist bis heute ungebrochen. Und es verwundert keineswegs, dass Choreografin Bibiana Jiménez sich künstlerisch mit ihr beschäftigt, denn sie setzt sich in ihrer Arbeit gern mit starken Frauen auseinander.

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Jetzt präsentiert ihr XX TanzTheater das Stück Luxx als Ergebnis dieser Auseinandersetzung im Innenhof der Kartäuserkirche in Köln. Ein romantisch verträumter Rückzugsort ist das, ausreichend weit entfernt vom Karnevalsfest an der Ulrepforte, dem Stadtradfest in der Nähe des Waidmarktes oder dem Sommerfest vor dem Schokoladenmuseum. Hinter einem schmiedeeisernen Tor, umgeben von Kirchmauern, liegt inmitten eines Wandelgangs eine Rasenfläche, in deren Mitte ein Bassin eingelassen ist. Auf dem Rasen sind Scheinwerfer aufgestellt, zwei Lautsprecher sind in Büschen verborgen. Gerade hat der Küster die Fernbedienung für das Glockenspiel übergeben. Voranmeldungen hat es kaum gegeben, aber dann finden sich doch zahlreiche Besucher ein.

Einmal mehr ist Jiménez eine grandiose Umsetzung ihres Themas gelungen. Statt der Originalmusik von Hildegard von Bingen hat sie gleich drei Komponisten beauftragt, ihre Assoziationen zu verwirklichen: Oxana Omelchuk, Carl Ludwig Hübsch und Simon Rummel haben sich zu einer Mischung aus Gesang, selbstgespielter Musik und Festplatteneinspielungen entschieden, die nahezu alle sehr gregorianisch klingen. Gut, am Schluss erlauben sie sich einen Spaß, und die kölsche Fassung von Purple Rain darf zum Schmunzeln einladen. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Gleichzeitig übernehmen die Komponisten auch Rollen, zumeist als die offizielle Gegenseite von Bingens. Jiménez erzählt nicht etwa das Leben der Kirchenfrau nach, sondern verdichtet es auf typische Situationen, die teils in Szenenfolge angeordnet sind. Daniela Riebesam, Josefine Patzelt und Thoung Phoung übernehmen den tänzerischen Part, der überwiegend die Zerrissenheit der Person darstellt. Und in der Konstellation wird sofort klar, was der Abend alles – wohltuend – nicht ist: PR-Beitrag für die Kirche, feministischer Ideologie-Angriff oder Heiligenverehrung.

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Stattdessen entfacht Jiménez ein Feuerwerk tänzerischer Ideen, die das Publikum faszinieren. Ob die abstrahierte Darstellung des asketischen Klosterlebens, an dessen Auflockerung Hildegard übrigens selbst arbeitete, weil sie vermutlich sah, was der strenge Stundenplan alles verhinderte, oder der verzweifelte Tanz gegen die Obrigkeiten, die sich allzu ignorant mit ihren eigenen Lehrschriften beschäftigen. Verschwiegen wird auch nicht die ordentliche Anhäufung von Reichtümern, die Hildegard hier zu einem goldenen Umhang verhelfen, unter dem sich leicht Musik komponieren lässt, indem man mit Blasinstrumenten oder deren Teilen spielt, während das Umfeld sich in Bußfertigkeit abwendet und im Gebet verharrt. Patzelt interpretiert das wunderbar. Nach weiteren Tanzeinlagen, darunter ein Eimer-Tanz und der Tanz auf dem goldenen Vlies, verheddert sich Riebesam als Hildegard in silberfarbenen Bilderrahmen, die eine übermäßige Verehrung symbolisieren mögen, ehe sie sich mit Hilfe ihrer Mittänzer darüber erhebt. Ein beeindruckendes Schlussbild.

Wer daraus die „Frau als Zukunftsvision“ ableiten will, muss sich schon scharf von der Geschlechtlichkeit abgrenzen. Denn Hildegard von Bingen ging es nicht darum, Frauenrechte einzufordern. Dazu war sie viel zu sehr mit aus ihrer Sicht wichtigeren Dingen beschäftigt. Übrigens eine Einstellung, die sie durchaus mit Bibiana Jiménez gemein hat. Und die hat mit ihrem Porträt der Darstellung von Hildegard von Bingen einen wichtigen Beitrag hinzugefügt. Bei Wikipedia gibt es bereits eine lange Liste von Beiträgen zur Kirchenfrau. Da fehlt diese Uraufführung unbedingt.

Das Publikum sieht es genauso. Das Ensemble wird zu Recht ausgiebig gefeiert. Anfang Juli und Ende August sind weitere Aufführungen geplant. Der Besuch wird ausdrücklich empfohlen.

Michael S. Zerban