O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Vom Jasmin zur Linde

LINDENBAUM UND LOTUSBLÜTE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
18. Juli 2020
(Livestream)

 

Deutschlandfunk, Kammermusiksaal, Köln

Noch immer ist die Situation der freischaffenden Künstler katastrophal. Nach Aufhebung des Auftrittsverbotes von Staats wegen sollten eigentlich an allen Ecken und Enden der Städte Konzerte stattfinden, zumal viele Menschen in den Sommerferien zu Hause bleiben und Zeit haben, solche Aufführungen zu besuchen. Stattdessen sind viele Festivals abgesagt, die öffentlich geförderten Häuser sind zu und für kleine Veranstalter lohnen sich Konzerte mit wenigen Besuchern wirtschaftlich nicht. Am Ende der Nahrungskette bleiben Musiker, Sänger, Schauspieler und Tänzer im Regen stehen. Es ist zum Haare raufen.

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind sich dieser Situation durchaus bewusst. Und der eine oder andere Sender versucht zu helfen. So hat beispielsweise der Deutschlandfunk eine zusätzliche Konzertreihe online installiert. Im Kölner Funkhaus gibt es mit dem Kammermusiksaal einen wunderbaren Veranstaltungsort, die technischen Mittel sind ohnehin vorhanden. Und trotzdem ist es ein riskantes Unterfangen. Sollten hier Infektionsfälle bekannt werden, wäre der Sendebetrieb gefährdet. Also haben die Verantwortlichen sich entschlossen, wenigstens Konzerte ohne Publikum aufzuzeichnen. So entsteht eine Win-Win-Situation. Der Sender kann mit wenig Aufwand sein Online-Angebot aufpeppen und gleichzeitig Künstlern Engagements anbieten.

Jie Zhou – Foto © O-Ton

Sopranistin Anna Herbst fällt nicht nur durch ihren wunderbaren Gesang und ihr umfangreiches Repertoire – von der Alten bis zur Musik der Gegenwart gibt es kaum etwas, was sie nicht zu schönsten Tönen animiert – auf, sondern auch immer wieder mit ausgefallenen und originellen Programmen. Ihr neuester Coup ist ein moderierter deutsch-chinesischer Liederabend für Sopran und Harfe unter dem Titel Lindenbaum und Lotusblüte. Damit ihr dieser durchaus als exotisch zu bezeichnende Spagat gelingt, hat sie sich als Duo-Partnerin Jie Zhou zur Seite geholt. Zhou ist eine Harfenistin der Extraklasse. Vielfach preisgekrönt, arbeitet sie heute als Solistin, Kammer- und Orchestermusikerin sowie als Pädagogin. Man wird nach diesem Abend von den beiden als Dream-Team sprechen dürfen.

Im Kammermusiksaal des Funkhauses Köln, der für seine hervorragende Akustik weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist, ist nicht nur die Mikrofontechnik für die Übertragung als Livestream vorbereitet, sondern auch eine professionelle Beleuchtung gesetzt. Auch die Künstlerinnen sind nicht etwa in Jeans und T-Shirt erschienen, sondern haben sich einem Konzert angemessen gekleidet. Redakteur Jonas Zerweck übernimmt die Moderation. Scheinbar locker informiert er über die Inhalte der folgenden Lieder, die Herbst und Zhou eindrucksvoll präsentieren. Tatsächlich singt Herbst die chinesischen Lieder im Original. Wie qualitativ wertvoll das ist, kann kein deutscher Kritiker beurteilen, aber es klingt überzeugend und Zhou zuckt nicht einmal zusammen. Großes Kompliment für die Lernleistung und den Mut. Die Anspannung ist der Sängerin im Saal anzusehen, im Gesang hört man sie nicht eine Sekunde. Man kann es nicht oft genug betonen: Nach einem Vierteljahr erstmals wieder öffentlich aufzutreten, noch dazu unter erschwerten Bedingungen, nämlich ohne die Unterstützung des Publikums, ist eine ganz außerordentliche Leistung, die man nicht hoch genug bewundern kann. Noch dazu, wenn es sich um ein solch exotisches Programm handelt, dass nicht in zahlreichen Konzerten zuvor erprobt wurde.

Anna Herbst – Foto © O-Ton

Die beiden Künstlerinnen lassen sich von all dem nichts anmerken. Es ist großartig. Im Wechsel werden deutsche Lieder von Clara und Robert Schumann, Richard Strauss, Hugo Wolf und Heinz Hollinger, Wolfram Buchenberg sowie Rolf Liebermann den chinesischen Liedern gegenübergestellt. Unter letzteren finden sich zahlreiche Volksweisen, aber auch einzelne Komponisten, deren Namen in Deutschland vollkommen unbekannt sind. Während das deutsche klassische Liedgut sich in China größter Beliebtheit erfreut, ist das chinesische in Deutschland nahezu unbekannt, im Klangbild aber gar nicht so weit voneinander entfernt, wie man im ersten Moment denken möchte. Und so reicht der Inhalt des Programms von Schumanns Jasminenstrauch bis zu Schumanns Lindenbaum aus der Winterreise. Zerweck bemüht sich, die Feinheiten herauszuarbeiten, die sich zuvörderst in der Formensprache äußern. Wo die deutschen Dichter und Komponisten sich mit Metaphern helfen, muss man bei den Chinesen schon eher den Sinn hinter den gewählten Bildern suchen. Das fasziniert. Herausragend ist auch das neuzeitliche Harfen-Solo Blühende Mondnacht am Frühlingsfluss, mit dem Zhou einmal mehr ihre ganze Virtuosität unter Beweis stellen kann.

Von der fremden Sprache braucht sich indes kein Lied-Liebhaber abschrecken zu lassen. Vorbildlich hat der Sender die deutschen Liedtexte auf seiner Seite – die zu finden allerdings schon eher ein Kunststück ist – veröffentlicht. Dieser hervorragend gelungene Abend endet mit einer kleinen Anekdote: Nachdem Redakteur Zerweck die im Saal anwesenden Funktionsträger eindrücklich darauf hingewiesen hat, alles zu unternehmen, um „nicht anwesend“ zu wirken, verpasst die Tontechnik am Ende des Livestreams, die Saalmikrofone auszublenden, so dass sich die Zuhörer dieses Abends noch ein recht genaues Bild über die Erleichterung aller Beteiligten machen können, dass das Programm so ausgezeichnet gelungen ist. Herrlich.

Die Aufnahme des Abends bleibt noch 30 Tage online. Am 16. August wird sie auch im Hörfunk übertragen. Um anschließend noch einmal einen Monat online verfügbar zu sein.

Michael S. Zerban