O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

In den Sternen verloren

KURT, WEILL ER MEHR IST
(Kurt Weill)

Besuch am
23. August 2020
(Uraufführung)

 

Liedwelt Rheinland, Klangraum Kunigunde, Köln

Wer sich in diesen Tagen nicht an den Klagemauern der Kultur festkrallt, erlebt wundervolle Momente. Während staatlich subventionierte Kulturinstitutionen noch an den Sommerferien festhalten, um sie bis zum letzten Moment zu genießen, gerne in öffentlich subventionierten Opernhäusern auch bis Anfang Oktober verlängert werden, kommen immer mehr so genannte Solo-Selbstständige dazu, sich aus der Elegie zu befreien, die ihnen die fehlende Unterstützung des Staates beschert hat. Neue Allianzen werden geschmiedet, plötzlich entstehen herausragende Programme, die vorher vielleicht undenkbar waren, weil die Künstler im Hamsterrad der Auftragsvergabe unterwegs waren. Jetzt gibt es keine Aufträge mehr. Die Künstler müssen Programme schaffen, die nicht mehr veranstalterkonform sind, sondern eigenes Publikum anlocken. Damit soll die verzweifelte Situation nicht schöngeredet werden. Aber fest steht: Einfallsreichtum und Engagement werden derzeit belohnt. Und da haben sogar Künstler, die sonst eher „unter dem Radar“ liefen, die Aussicht, ins Rampenlicht zu treten.

Der Klangraum Kunigunde ist eine Reihe von Sonntagskonzerten in der Kirche Sankt Heinrich und Kunigund am Köln-Nippeser Schill-Platz, die sich zum Ziel gesetzt hat, Konzerte aller Couleur im Stadtteil für den Stadtteil zu veranstalten. Das ist eine schöne Zielsetzung, die Besucher von außerhalb weitestgehend ausschließt. Denn hier einen Parkplatz zu finden, ist so gut wie illusorisch. Auch hier gingen im März die Pforten zu. Jetzt soll es also unter Corona-Bedingungen weitergehen. Da fehlt es noch ein wenig an Routine und Übersicht. In der Kirche werden die Plätze arg spärlich besetzt, es fehlt an Personal, das den Ablauf gestaltet. Und das ist weder beabsichtigt noch böswillig. Vielleicht hat gar keiner damit gerechnet, dass das Programm dieses Nachmittags derart gut angenommen wird. In Kooperation mit der Liedwelt Rheinland, die die Veranstaltung in ihrer Reihe Liedsommer 2020 aufgenommen hat, versucht Gastgeber Hinnerick Bröskamp, dem Ansturm gerecht zu werden. Wobei es keinen wirklichen Ansturm gibt. Aber das Management mit den Menschen, die erscheinen, überfordert die Organisatoren. Wie schön, dass es sich am Ende mit einer viertelstündigen Verspätung gut ausgeht. Überraschend viel alte Leute sitzen mit größten Abständen in den Kirchenbänken, und alle sind zufrieden.

Naré Karoyan – Foto © O-Ton

Kurt, weill er mehr ist! lautet die Überschrift des Nachmittags. Das hätten Künstler mal in der Zeit vor Corona irgendwelchen Veranstaltern außerhalb von Dessau, wo alljährlich das Kurt-Weill-Festival veranstaltet wird, anbieten sollen. Und selbst in Dessau ist man von solchen Programmen nicht übermäßig begeistert. So aber lernen die Nippeser Bürger dieses Programm gleich in einer Uraufführung kennen. Wenn die Programme derzeit nicht mehr als 75 Minuten ohne Pause dauern dürfen, lernen die Besucher an diesem Nachmittag, dass es gar nicht viel mehr braucht, um beseelt nach Hause zu gehen. Die dreistündige Gala mit schickem Catering ist vorerst Geschichte. Auch Sopranistin Simone Hirsch, Pianistin Naré Karoyan und Cellist Ira Givol haben bei der Konzeption viel zusammenstreichen müssen – aber geschadet hat es nicht. Sie vermitteln in gut einer Stunde, so viel sei schon verraten, so viel Wissen, dass es satt für einen Tag reicht.

Die Zeit großer Inszenierungen scheint vorerst vorbei. Eine weitere schlechte Nachricht für Regisseure. Und auch in der Kirche in Köln-Nippes gibt es keine Möglichkeiten, Übertitel für die Verständlichkeit zu zeigen oder großartige Video-Projektionen anzubringen. Trotzdem lässt es sich Hirsch nicht nehmen, mit kleinen Mitteln eine Geschichte zu erzählen. Während die Musiker ihre Plätze einnehmen, eilt die Sopranistin an einen Tisch, in der Armbeuge einen schmalen, braunen Koffer, der garantiert aus den 1930-er Jahren stammt und eine Vielzahl an Requisiten enthält, die die Geschichte von Kurt Weill unterstützen sollen. Und schon gibt es die erste Überraschung, denn das Trio eröffnet mit einem Kiddusch, einem Sabbat-Gebet, das Weill selbst komponiert hat. Damit, sagt Givol, soll feierlich ein Teppich ausgebreitet werden, um den Abend gebührend zu feiern.

Gleich danach wird die selten gespielte Sonate für Cello und Klavier von Weill begonnen, wie es sich gehört, mit dem ersten Satz, dem Allegro ma non troppo. Immer wieder unterbrochen von Briefzitaten, die Hirsch über das quäkende Kirchenmikrofon vorträgt. Aus drei Büchern hat sie die Zitate zusammengetragen, die das Stück bis zum Ende durchziehen. Gegenseitig tränken und ergänzen sich Musik und Briefzitate. Allein das hätte schon für ein vollständiges Stück gereicht, aber die drei bereichern den Nachmittag mit Stücken von ganz unbekannt bis zu Volksschlagern, die in Amerika jedes Kind kennt, während man in Deutschland im Jahr 2020 über die Vielfalt staunt. Während der Alabama Song noch vielen im Gedächtnis ist, den Hirsch in einer eigenen Interpretation sehr überzeugend darbietet, lernt man mit Speak low und Je ne t’aime pas schon neue Bereiche kennen. In diesem Umfeld wird die erste Lebensphase beleuchtet, die das Trio von der Kindheit bis zur Jugend nach dem Weggang aus Deutschland und der Zeit in Frankreich zusammenfasst.

Simone Hirsch – Foto © O-Ton

In der zweiten Gruppe geht es um die Zeit, als Weill nach Amerika auswanderte und versuchte, ein Amerikaner zu werden. Wie viel gäbe es da zu erzählen, allein, die Zeit reicht nicht. Und so beschränken sich die Musiker darauf, neben dem dritten Satz der Sonate für Cello und Klavier einige beispielhafte Lieder zu präsentieren. Hirsch lässt hier amerikanische Fähnchen zeigen, Givol zeigt seine Begeisterung für Amerika mit Flagge, Kaugummi und Coca-Cola. Nach dem Allegro assai gibt es drei Lieder. How can you tell an American – wie kannst du es einem Amerikaner beschreiben? – ist eines der Glanzstücke aus dem Schaffen Weills. Melancholisch wird es mit Lost in the stars – verloren in den Sternen. Der Text des Stücks wurde auch bei der Beerdigung Weills rezitiert. Ira Gershwin hat den Text zu There’ll be life, love and laughter geschrieben, wenn man so will, ein direktes Gegenstück, das beschreibt, dass es Leben, Liebe und Gelächter geben wird.

Das Paradies, die dritte Werkgruppe, eröffnet mit dem Andante espressivo, dem zweiten Satz der Sonate für Cello und Klavier, und schließt gleich wieder mit einem wunderbar vorgetragenen Youkali. Tatsächlich abgerundet wird dieser wunderbare Auftritt dann doch von einem Evergreen als Zugabe. Da will man sich auch nicht mehr an das eingangs ausgesprochene Mitsingverbot halten. Ganz leise wird ja wohl erlaubt sein, wenn „an’nem schönen blauen Sonntag liegt ein toter Mann am Strand und ein Mensch geht um die Ecke, den man Mackie Messer nennt“.

In dieser Zeit gibt es vermutlich sehr viele Menschen, die ganz große Kunst erleben, ohne das zu bemerken. Das macht aber nichts, so lange Künstler wie Simone Hirsch, Ira Givol und Naré Karoyan sie wie selbstverständlich darbieten. Ausgiebiger Applaus ist ihnen gewiss. Und nicht wenige Besucher nutzen auch gleich noch die Chance der persönlichen Nähe, um den Kontakt zu den Künstlern nach einem großartigen Konzert zu suchen. Fast möchte man sagen: Ja, so kann es weitergehen.

Michael S. Zerban