O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Veränderte Koordinaten

IN_TRANSIT
(Adrián Costelló)

Besuch am
22. Oktober 2021
(Uraufführung)

 

Tanzfaktur Köln

Was eigentlich war so schlimm am Lockdown? Gut, die Menschen mussten zuhause bleiben, und auch, wenn es Einschränkungen gab, der Alltag blieb. Choreograf Adrián Costelló sieht genau darin das Problem. Wir waren zurückgeworfen auf die täglichen Pflichten, Kinderversorgung, Beruf – wenn auch oft unter veränderten Bedingungen, aber die blieben dann auch gleich – und das häusliche Familienleben. Es gab nichts, was die Koordinaten verändern konnte. Selbst der Gang in den Park oder der Spaziergang im Wald konnte die straff festgelegten Spielregeln nicht durchbrechen. Aber ist nicht gerade das ungewohnte Ereignis, das Durchbrechen von Routinen das, was das Leben ausmacht? Und es muss ja gar nicht viel sein. Der Theater- oder Kinobesuch, das Grillfest mit Freunden, die Urlaubsreise. Manchmal ist es aber auch Umwälzendes. Die neue große Liebe, an die man längst nicht mehr glaubte und die plötzlich im Supermarkt an der Fleischtheke auftauchte; der Autounfall, der, womöglich mit Verletzungen verbunden, das Leben scheinbar erschwerte. All das hilft uns, den Alltag zu ertragen. Es hatte natürlich auch einen Grund, warum plötzlich die Tierheime leergefegt waren.

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Costelló will die Geschichte von den Zufällen, Schicksalen und Ereignissen erzählen, die das Leben so unwägbar und damit auch interessant machen. Die auch und gerade nach Corona wieder wichtig werden. Die Botschaft wird sozusagen schon vor Beginn der Choreografie mitgeliefert. Die mathematische Zwanghaftigkeit des Alltags führt nicht zu Lösungen, wenn sie nicht auch die Unbekannten dazu reicht. Katrin Lehmacher, die für Bühnenbild und Kostüme zuständig ist, hat sich allerlei einfallen lassen, um Costellós Choreografie nach Kräften zu unterstützen. Die Tänzer erscheinen in weißen Kostümen, die mit schwarzen Einsätzen Luftigkeit verschaffen. Die weiße Bodenfläche gibt Platz für zunächst akkurat abgemessene weiße Lichtfelder, die sich mehr und mehr in Farbflächen auflösen. Die hat Jonas Wiegner sehr genau abgemessen. Über dem Boden sind zeltplanenartige Gegenstände aufgehängt, die im Laufe der knapp einstündigen Aufführung zu Boden sinken und den Tänzern Gelegenheit geben, ein Leben neu zu erfinden. Es gibt also eine Zeit nach Corona. Sehr erfreulich.

Costelló hat für diesen Abend ein auffällig junges Ensemble zusammengestellt. Wolfrun Schumacher ist 24 Jahre alt, Andrea Kößler 28 und Ken Konishi studiert noch. Das passt gut zum Thema, weil ja gerade diese Altersgruppe jetzt wieder neu in das Leben einsteigt. Schumacher beginnt damit. Sie hält sich exakt an die vorgegebenen Lebenslinien, indem sie von Lichtquadrat zu Lichtquadrat tanzt. Sie ist In_Transit, weil Auf der Durchreise für Nichtkenner der deutschen Sprache vermutlich einfach langweilig klingt. Aber sie kann auch nichts falsch machen damit, denn aus dem Off gibt es immer wieder die Stimme, die ein reset, also einen Neustart verlangt. Konishi gesellt sich zu ihr und eröffnet damit die Ebene des Dialogs. Aber so recht will die Annäherung nicht gelingen, schließlich ist der Tänzer noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und so bleiben die Begegnungen eher auf Abstand, zufällig und scheinbar ungewollt. Trotz zahlreicher Interventionen entsteht zeitweiliger Gleichklang erst, als Kößler hinzustößt. Mit dem Herablassen der Zeltplanengestelle eröffnen sich neue Räume, die in vielfältiger Weise kombiniert werden können und gleichzeitig Projektionsflächen für die Videokunst von Cornelius Schaper und Roberta de Lacerda bietet.

Eine Klangkulisse hilft, eine szenische Struktur aufzubauen, und gibt den Tänzern schnelle Rhythmen inmitten eines unbeständigen und unbestimmten Rauschens vor. So können sich die Tänzer zwischen Windungen, schnellem Lauf bis hin zu balletesken Figuren abarbeiten. Es wird ein lebhafter Abend, der nur selten innehält, den Besuchern aber offenbar sehr gut gefällt. Denn der Applaus hält für eine Tanzaufführung ungewöhnlich lange an. Nach gut einer Stunde werden die Gäste zur kleinen Premierenfeier im Foyer entlassen.

Michael S. Zerban