O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Neue Wege gefunden

HERMANN UND DOROTHEA
(Marco Hasenkopf)

Besuch am
3. September 2020
(Uraufführung)

 

Distrikt 9, Bahnhof Mülheim und Umgebung, Köln

Ein Stück von Johann Wolfgang von Goethe heutzutage auf die Bühne zu bringen, gilt wohl eher als Kassengift. Ein Versepos wie Hermann und Dorothea allemal. So etwas wird im Stadttheater gezeigt, wo Hexameter allenfalls alte, bildungsbürgerliche Abonnenten rühren, die sich dabei an ihre Schulzeit erinnern, und Schulklassen quälen, die im Rahmen der Vermittlungsarbeit in den Saal gelockt werden. Für die so genannte Freie Szene ist das wohl sicher nichts.

Von wegen. Marco Hasenkopf hat sich der Geschichte des Jünglings aus wohlhabendem Hause, der sich in ein Flüchtlingsmädchen verliebt und durch die Konventionen der Zeit winden muss, angenommen. Er vertraut seinen Darstellern und belässt die Sprache in weiten Teilen im Original. Ihnen kommt somit die Aufgabe zu, daraus etwas zu machen, was nicht nach 18. Jahrhundert klingt, sondern heute stattfinden könnte. Die Handlung wird allerdings in die Gegend um den Bahnhof von Köln-Mülheim verlegt. Es soll eine „theatrale Stadtraumerkundung mit Schauspiel, Puppenspiel und Musik“ werden. Was hölzern klingt, wird von Regisseurin Andrea Bleikamp und ihrem Team mit Saft und Kraft erfüllt. Allein die Route für den geplanten Theaterspaziergang herauszufinden, spricht für einen Haufen mehr Arbeit, als sie ein Regisseur auf der Bühne zu leisten hat. Gegen die Detailfreude, die Bleikamp an den Tag legt, ist ein Bühnenbild Kinderkram.

Thomas Krutmann und Marion Bihler-Kerluku – Foto © O-Ton

Aber es funktioniert für einen Regisseur wohl kaum etwas, wenn er nicht ein Spitzen-Team zur Seite hat. Und damit wird die Inszenierung nicht nur für Bleikamp zum Glücksfall. Thomas Krutmann, der noch allzu gut als Zampano in La Strada – ein Landstreich im vergangenen Sommer in Erinnerung ist, übernimmt die Rollen von Hermann und seinem Vater. Marion Bihler-Karluku stellt nicht nur Hermanns Mutter dar, sondern baut auch die beiden Puppen, die Apotheker und Pfarrer darstellen, und erfüllt sie mit Leben. Doro Bohr schließlich wird die ehrenvolle Aufgabe zuteil, Dorothea darzustellen. Daneben sorgt die Komponistin und Sound-Designerin für eine zurückhaltende, aber geschickte musikalische Untermalung. Dabei betreibt sie die Zurückhaltung mit vergleichsweise viel Aufwand. Neben der akustischen Gitarre trägt sie den dazugehörigen Verstärker am Leib, hat eine Mundharmonika und Rhythmusgeräte „am Mann“ und nutzt gleich zu Anfang ein Raumelement auf dem Bahnhofsvorplatz als Perkussionsinstrument. Als sie im Bahnhof auf einen Straßenmusiker trifft, ergreift sie die Gelegenheit, ihn spontan in einen gemeinsamen Auftritt einzubinden. In der U-Bahn gibt es eine abgelegene Kellertreppe, an deren Fuß eine Liebesszene in bizarrem Licht Platz hat, ansonsten bleibt Dorothea die ferne, unerreichbare Traumfrau.

Krutmann nutzt das, um seine Leidenschaft exzessiv auszuleben. Ganz wunderbar, wie er die Hexameter in eine heutige Sprache verwandelt, sie mit der Alltagssprache in kurzen Einwürfen verwebt. „Ich will mehr Pommes“ hebt die Sprache des 18. Jahrhunderts einfach mal lässig in die Gegenwart, ohne sie ad absurdum zu führen. Wenn er tatsächlich schmetterlingsgleich durch die Seitenstraßen des Bahnhofs taumelt, wird deutlich, dass Bleikamp Räume nutzen kann und Hermann auf der Suche nach seiner großen Liebe ist. Der Reiz der Aufführung liegt unter anderem an dieser Stelle zwischen der Weitläufigkeit und den kammerspielartigen Situationen, die die Zuschauer eng an die Darsteller herantreiben. Nicht immer bleibt verständlich, was da geredet wird, und es hilft deutlich, wenn man die Geschichte von Hermann und Dorothea kennt. Dann kann man auch die subtile Komik der Puppen erschließen. Bihler-Karluku versucht sich gar nicht erst im Bauchsprechen, aber das mindert nicht im Geringsten die Wirkung der beiden Puppen. Die flechten sich so lebendig in das Geschehen ein, dass man weder ihre Gegenwart noch ihre Worte in Frage stellt oder als unwirklich begreift. Alsbald werden sie zu den selbstverständlichsten Nebenfiguren des Stücks, die man sich nur vorstellen kann.

Wenn Krutmann die Tour in einem ergreifenden Monolog am Ende eines Bahnsteigs abschließt, ist wirklich alles gelungen. Musik, Puppenspiel und Darstellung werden aus nächster Nähe als eine Einheit begriffen, die sich wie ein anderer Planet durch Mülheim wälzt. Da will der Applaus nicht enden, und lange stehen Darsteller und Zuschauer nachher noch auf dem Bahnhofsvorplatz zusammen, um über das Stück zu sprechen. Schöner mag man sich Theater kaum vorstellen.

Auch wenn Hasenkopfs Idee eigentlich ist, für die Bürger des Stadtviertels zu arbeiten, lohnt sich die Anreise in den Kölner Stadtteil auch von außerhalb. Noch an den kommenden Wochenenden im September ist die Aufführung zu erleben. Und Andrea Bleikamp? Die denkt allen Ernstes über Oper nach. In diesem wunderbaren Format eine Kleinigkeit. Wenn sie sich nur traut. Denn jetzt ist, wie sie mit Hermann und Dorothea gezeigt hat, alles möglich.

Michael S. Zerban