O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Disdance Project

Aktuelle Aufführungen

Töricht ist der Sterbliche

HERAKLES
(Euripides)

Besuch am
29. November 2020
(Vorschau)

 

Hansgünther Heyme und Disdance-Project im Wandelwerk, Köln

Die Bundesrepublik Deutschland ist derzeit in denkbar schlechter Verfassung. Nachdem die Bundesregierung mittels ein paar Verordnungen das Vertrauen der Bürger in das Grundgesetz in den Grundfesten erschüttert hat, die parlamentarische Demokratie außer Kraft gesetzt und seither weite Teile der Wirtschaft, aber auch die Kultur ruiniert hat, steht das Land vor einem Schutthaufen, in dem nach wie vor ein Virus wütet, wenn man den öffentlich-rechtlichen Medien Glauben schenken darf. Wer sich als Kulturschaffender oder Gastronom am so genannten Black Friday, einer Erfindung des Handels, der an diesem Tag versucht, möglichst viel Ware über „Sonderangebote“ loszuschlagen, oder am darauffolgenden Samstag in den Einkaufszonen der Großstädte aufgehalten hat, dürfte Tränen der Wut in den Augen gehabt haben. Wer sich nicht im privaten Umfeld infiziert, hatte hier die allerbesten Chancen. Und die Ordnungskräfte? Na ja, muss sich ja auch jemand um Falschparker kümmern, wenn so viele Menschen in die Stadt strömen. Und schließlich wissen sie am besten, wie hoch die Ansteckungsgefahr ist, wenn man sich in die Massen begibt, die in einer Fußgängerzone wimmeln.

Aber wie gehen eigentlich die Kulturschaffenden mit Auftritts- und Veranstaltungsverboten um? Viel Geld wurde im vergangenen Sommer dafür ausgegeben, um neuen Regularien nachzukommen und Besuchern den Zugang zu Aufführungen zu ermöglichen, ehe sie erfahren mussten, dass die Regierung das nicht im Mindesten interessierte. Einige versuchten, sich zu organisieren, um gemeinsam dafür zu sorgen, dass Geld floss. Und scheinbar war sehr vielen klar, dass sie nicht bereit waren, Kunst für ein kostenloses Internet zu produzieren. „Ohne uns wird’s still“ entwickelte sich gerade beim zweiten Shutdown zu einem außerordentlich beliebten Zitat. Bis dahin hatten sich noch viele Bühnen bemüht, Kleinformate zu entwickeln, mit denen sie die zweite Welle überstehen könnten. Was man vergeblich suchte, waren neue Formate, die geeignet sein könnten, kleine Besucherzahlen in zahlreichen Aufführungen auf Distanz zu halten. Neue Spielstätten zu finden, bei denen die Betriebskosten auch die Größe des Aufführungsortes rechtfertigen. Eine bedenkliche Entwicklung, wenn man daran denkt, dass die Annahme nicht verwegen ist, auf Aufführungen im großen Stil bis zum kommenden Frühjahr verzichten zu müssen. Aber es gibt Ausnahmen.

Foto © Disdance Project

Köln-Neuehrenfeld. Der Name des Stadtteils täuscht. Hier ist nichts neu. Und vor einiger Zeit hat ein Autohandel seinen Standort aufgegeben. Aus dem leerstehenden Gebäude wurde auf Zeit das Wandelwerk, ein Ort, an dem sich Bürger treffen, um über den sozio-ökonomischen Wandel der Stadt nachzudenken. Ob es das braucht, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Wichtiger ist, dass das Wandelwerk dem Disdance-Projekt den Platz einräumte, ein Format zu entwickeln, das das Theater der Zukunft bereichern könnte. Das Disdance-Projekt besteht in erster Linie aus dem Ehepaar Paula Scherf, einer Bühnentänzerin und Choreografin, und André Lehnert, Videokünstler, Regisseur und Schauspieler, die mit anderen Künstlern zusammenarbeiten, um die Vielzahl ihrer Projekte zu stemmen. Schon im ersten Shutdown begannen sie, sich Gedanken zu machen, wie man in der kommenden Zeit Live-Projekte verwirklichen könnte. Die Grundidee war schnell klar. Viele kleine Besuchergruppen mussten die Möglichkeit bekommen, möglichst viele Aufführungen in rascher Abfolge aufsuchen zu können, um die Kosten halbwegs zu decken. Das scheint mit Schauspielern, die live vor Publikum spielen, kaum machbar. Gut, an einem Tag mal drei Vorstellungen zu stemmen, wird kein Darsteller ablehnen. Aber das über drei aufeinanderfolgende Tage durchzuhalten, scheint der künstlerischen und körperlichen Wirklichkeit nicht ernsthaft standzuhalten.

Gemeinsam mit Alt-Regisseur Hansgünther Heyme erarbeiteten sie ein Konzept, das nach Lehnerts Aussage bislang einzigartig ist. Den lockten sie mit der Inszenierung eines Stückes, das dem Theatermann schon lange ein Herzenswunsch war. Im Herakles von Euripides sieht Heyme das „brutalste Stück der griechischen Antike“. In Kurzform: Herakles erscheint, um seine Kinder zu retten, muss aber erkennen, dass sein Heil in der Tötung der drei Söhne liegt. Die Assoziation zur derzeitigen Virus-Krise ist erwünscht. So ein Stück hat es zunächst einmal vor allem sprachlich in sich. Da könnte man, da sich das Stück an Menschen ab 16 Jahren richten sollte, doch gerne mal revidieren und die Sprache auf ein heute verständliches Niveau bringen. Aber nicht mit Heyme. Als Verfechter der Werktreue verteidigt er den Originaltext „bis aufs Komma“. Gut. Aber wenn man diesen Text in ein Spannungsfeld zu modernen Medien setzt? Damit hat die Theaterlegende überhaupt kein Problem. Im Gegenteil, gern übernimmt der frühere Intendant und Ring-Regisseur doch gleich mal die Rolle des Chores.

Die Zuschauer werden im Foyer des ehemaligen Autohauses in Empfang genommen und in einen kargen Raum abseits geleitet, der sicher nicht dazu diente, Luxus-Modelle zu präsentieren. Vielleicht eher ein Lagerraum der dritten Kategorie. Jetzt ist der Raum fast ideal, wenn man von der Höhe absieht, eine kühle Atmosphäre zu erzielen, in der die Brutalität des folgenden Geschehens eher noch betont wird. Ein paar Stühle sind aufgebaut vor einem in der Tat einzigartigen Bühnenbild. Neun Monitore sind da auf rechteckigen Körpern aufgebaut, zwischen denen drei Figurinen stehen. Ebenso viele Lautsprecher sind montiert. Bei oberflächlicher Betrachtung ein Altar, der die „göttliche Ordnung“ repräsentiert. Auf dem Altartisch wird später der Chor zu sehen sein, eine Ebene höher findet das „Geschehen“ statt und über allem – viel zu niedrig hier in dem Raum, betont Heyme – ist die göttliche Ebene angeordnet. Damit folgt die Inszenierung der antiken Theateranordnung.

Foto © Disdance Project

Kalt ist es in dem Raum, freundlich werden Decken angeboten, aber die sind schnell vergessen, wenn Heyme als Chor, über fünf Monitore verteilt, als Chor anhebt. Scherf hat für die Maske gesorgt und ihre Fantasie bewiesen. Wunderbar, wie sie aus dem verbundenen Gesicht Heymes gleichzeitig die starre Maske der Chormitglieder entwickelt. Großartig auch die anderen Masken der Darsteller, in denen sich das Ungewöhnliche des widersprüchlichen Helden Herakles mit Doppelaugen, die Trauer mit schwarzen Bändern und Blüten, der Januskopf der Göttin und das Kämpferische mit einer Netzstrumpfhose im Gesicht des Theseus widerspiegelt, den Thomas Hupfer spielt.

Lehnert sorgt mit seiner Videokunst dafür, dass die Darsteller, deren Köpfe auf den Monitoren auftauchen, in einen Dialog treten können. Ja, die Sprache ist anstrengend, und man muss schon all seine Konzentration aufbringen, um der ausschließlich erzählten Handlung zu folgen. Auf der anderen Seite, darauf weist Lehnert hin, sei hier eine demokratische Erzählform gefunden, die sich vor allem bei wiederholter Betrachtung erschließt. Dadurch, dass ausschließlich die Köpfe der Darsteller, die übrigens bewundernswert mit der antiquierten Sprache umgehen, zu sehen sind, gibt es hier keinen handlungsleitenden Fokus mehr. Der Zuschauer entscheidet selbst, welchem Bild er folgt.

Nach einer 55-minütigen Aufführung ist man als Besucher aufgeregt, erschöpft und fasziniert. Das Gefühl, hier und heute etwas ganz Besonderes erlebt zu haben, hat sich, auch ohne sich allzu sehr auf die antiken Beziehungen eingelassen zu haben, tief in den Hinterkopf eingegraben. Und ein klein wenig Freude schleicht sich auch noch ein: Mit diesem Format können die Theatermacher tatsächlich viele Aufführungen für jeweils wenige Besucher verwirklichen. Damit haben Disdance-Project und Heyme tatsächlich etwas radikal Neues versucht und den Glauben an die Kulturschaffenden zurückgegeben: Da wird, vielleicht auch auf Basis dieses Versuchs, in Zukunft noch mehr machbar sein. Gratulation.

Michael S. Zerban