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Aufbruch und Warnung

GYMNASTIK
(Monika Gintersdorfer)

Gesehen am
27. Februar 2021
(Uraufführung/<Livestream)

 

Schauspiel Köln

Gymnastik ist sicher kein pikanter Titel für einen 80-minütigen Tanzabend, den das dem Kölner Schauspiel eng verbundene Ballet of Difference derzeit online streamt. Gymnastik hat aber viel mit Aufwärmen und Vorbereitung zu tun. Und mit „Gymnastik“ beginnt die Compagnie allmählich, sich, wie vor einer Probe, aus dem Stillstand im Zuge der Pandemie zu befreien und für größere Aufgaben zu wappnen. In schlichten, aber bunten Gymnastikanzügen, mit Maske und gebührendem Abstand, sind zunächst nur biegsame Metamorphosen klassischer Bewegungsmuster zu sehen. Dabei bleibt es natürlich nicht. Die Choreografin Monika Gintersdorfer schlägt einen historischen Bogen zur Zeit der Weimarer Republik, als sich das Leben nach dem Krieg nicht nur neu definieren musste, sondern auch konnte. Und zwar mit vielen neuen Formen, die aus der vorübergehenden Starre erwachsen sind. Damit setzt sie ein Zeichen der Hoffnung, getragen von dem Optimismus, nach dem Lockdown mit frischen Kräften neue Akzente setzen zu können.

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Die Choreografin zitiert diverse Tanzstile der damaligen Zeit, auch experimentelle wie die der Tänzerin und Choreografin Valeska Gert. Mit deren Biografie erinnert sie jedoch zugleich an die Brüchigkeit scheinbar stabiler Zeiten. Denn das so genannte Dritte Reich ließ nicht lange auf sich warten, in dem für die jüdische Tanzikone und die gesamte freie Kunstszene kein Platz mehr blieb. Um die Brüchigkeit unserer Zeit ins Bewusstsein zu rufen, nutzt Monika Gintersdorfer die internationale Zusammensetzung der insgesamt zwölfköpfigen Compagnie. Denn Ausgrenzung und rassistische Vorurteile hat fast jeder, nicht nur die dunkelhäutigen Mitglieder, persönlich oder im Umfeld erfahren. Das Stück endet folgerichtig mit einer Revue national unterschiedlich gefärbter Tanzstudien einzelner Tänzerinnen und Tänzer. So bunt, so wie sich auch die Kostüme der Mitwirkenden im Laufe des Abends verfeinern. Für die Kostüme zeichnen Knut Klassen, Marc Aschenbrenner und Tom Schellman verantwortlich.

Damit den Zusammenhang zwischen Rassismus, Ausgrenzung und letztlich faschistischer Enthemmung jeder versteht, wird das Programm mit teilweise langatmigen Erklärungen durchsetzt. Mit denen freilich nur der viel anfangen kann, der über gute Englisch- und Französisch-Kenntnisse verfügt. Schade.

Ansonsten darf man sich an einer bunten Mischung von Solo- und Ensemble-Beiträgen erfreuen, drapiert als Competition oder als Reflex auf angesagte Tanzstile. Ergänzt durch Videoeinblendungen alter Film- oder Dokumentarszenen, die allerdings auf dem Bildschirm nur beiläufig wahrgenommen werden können. Ein Preis für die stark auf die Tänzer ausgerichtete Kameraführung. Die Bühne hat Knut Klasse entworfen.

Musikalisch sorgt Hans Unstern mit Gesang und auf der Harfe für den einzelnen Szenen angepasste Arrangements, so dass das gesamte Programm anschaulich demonstriert, wie sehr sich Tänzer und Musiker danach sehnen, sich endlich wieder unbeschwert artikulieren zu können. Auch der Hunger des Publikums nach einer offenen Kulturszene dürfte sich durch solche Präsentationen noch verstärken, trotz der teilweise unnötigen Redebeiträge.

Pedro Obiera