O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Joris-Jan Bos

Aktuelle Aufführungen

Wenig überzeugend

GEZEITEN
(Emanuele Soavi)

Besuch am
22. September 2022
(Uraufführung)

 

Tanzfaktur, Werkshalle, Köln

Der Journalist, der für ein Kölner Eventblättchen über den heutigen Abend berichten soll, sprintet die letzten Meter zur Abendkasse, um seine Karte abzuholen. Es ist kurz vor acht. Vorstellungsbeginn ist auf acht Uhr angesetzt. Da ist Eile geboten, um pünktlich zu sein. Es ist wohl das, was man einen running gag nennt. Denn kaum hat der Mann die Karte in der Hand, beginnt das Warten. „Pünktlichkeit ist eine Zier, doch besser geht es ohne ihr“, war schon zu Schulzeiten ein Spruch, der höchstens für einen Eintrag ins Klassenbuch wegen Ungehörigkeit gut war. Ohne weiteres Wort der Erklärung werden die Zuschauer mit 20 Minuten Verspätung eingelassen. Anstatt nun zügig zu beginnen, muss das Publikum noch zwei Ansprachen über sich ergehen lassen, die keine neuen Erkenntnisse vermitteln und besser auf die anschließende Premierenfeier passten.

Eigentlich soll es ein rauschendes Fest werden, das die Emanuele Soavi Incompany zu ihrem zehnjährigen Bestehen feiern will. Mit der Uraufführung eines Doppelabends ist der Auftakt geplant. Und mit einer mehr als halbstündigen Verspätung kann es dann losgehen. Unter dem Titel Gezeiten ist der erste Beitrag Flut eine Arbeit, die bereits zu früheren Zeiten begonnen wurde und nun tatsächlich umgesetzt wird. Der Bühnenraum ist schwarz ausgeschlagen, in der hinteren rechten Ecke hat sich Komponist Stefan Bohne mit seinen Computern platziert, vorne links sitzt Anja Schröder am Cello. Das Stück beginnt mit einem zehnminütigen Solo der Tänzerin Mihyun Ko, der Darko Petrovic ein opulentes weißes Kleid angepasst hat. Roman Sroka fängt sie mit einem Verfolger ein, der langsam aufzieht und die Bühne bald in weißes Licht taucht, während die Tänzerin als unschuldiges Schicksal ihren Platz räumt. Damit ist für Federico Casadei, Taeyeon Kim, Lisa Kirsch, Giacomo Luci, Lorenzo Molinaro und Nimrod Poles der Raum freigegeben, um sich als Flutopfer zu zeigen. Hier wirkt vieles noch ungelenk, muss sich in den folgenden Vorstellungen erst noch einschleifen. Währenddessen sind die elektronischen Kompositionen von Wolfgang Voigt und Stefan Bohne zu hören, die auf Werken von Ludwig van Beethoven basieren und mit den Klängen des Cellos vervollständigt werden. Besonders eindrucksvoll ist dabei, dass Schröder nicht vom Notenblatt, sondern zu den Tanzpositionen spielt. Das muss man können. Am Ende hat Petrovic noch ein besonderes Bonbon parat, wenn er das Schicksal verdunkelt und Mihyun Ko komplett in graue Gaze einhüllt, um sie das Abschluss-Solo tanzen zu lassen. Den Schluss verpatzt Bohne, indem er die Musik nicht ausblendet. Erst die Ansage aus der Technik, dass jetzt eine 20-minütige Pause folge, beendet die Aufführung. Da ist auch der Applaus verdorben.

Foto © Joris-Jan Bos

Es ist nicht anders zu erwarten. Die Pause dauert noch einmal fast zehn Minuten länger. Mindestens ein Viertel, wenn nicht die Hälfte des Publikums kehrt aus der Pause nicht zurück. Eine Zuschauerin äußert ihren Unmut, wenn sie feststellt, dass die Künstler wohl in ihrer eigenen Blase leben, um dermaßen großzügig mit der Zeit ihres Publikums umzugehen. Arbeiter und Angestellte müssen unter der Woche früh aufstehen. Dem ist kaum zu widersprechen.

Dröhnende Musik empfängt das Publikum, als es wieder in die Werkshalle der Tanzfaktur eingelassen wird. Uranus Ball hat Soavi den zweiten Teil des Abends genannt, in dem er sich der Energie der Erneuerung widmet. Die Tänzer stehen im Raum verteilt und sind an grüne Kabel angeschlossen. Links vorne steht Ashley Wright an den Computern und sorgt für selbstkomponierte Klangkulissen. Vor ihm steht ein hochformatiger Monitor, auf dem Kunstfilme von Julia Franken eingespielt werden. In ästhetischen Schwarzweiß-Bildern zeigt die Videokünstlerin Ausschnitte von nackten Körpern in Naheinstellungen. Stilistisch immer wieder diskutabel, wenn Nacktheit auf der Bühne ausschließlich filmisch praktiziert wird. Soavi wird an diesem Abend zu einer anderen Lösung finden.

Die Tänzer lösen sich von den Kabeln vulgo dem alten System, wechseln ihre martialische Kleidung gegen die im zeitgenössischen Tanz so beliebten Trainingsklamotten, um sich dann dem Tanz hinzugeben, nachdem sie das Publikum mit einigen auf der Tribüne unverständlichen englischen Worten begrüßt haben. Federico Casadei bringt ein Band am Stab, wie es eigentlich eher in früheren Zeiten des Ausdruckstanzes gebräuchlich war, ins Spiel. Und für Lisa Kirsch hat Heike Engelbert eigens ein Kostüm aus Kunsthaarperücken entworfen, mit dem sie einige Schritte absolviert, ehe sie es wieder ablegt. Während die anderen sich wieder umziehen und an ihre Kabel anschließen, darf ein Tänzer sein Solo nackt tanzen. Da staunt man über den muskulösen Körper und fragt sich unwillkürlich, ob man bei solchen Ressourcen nicht gerade ein bisschen wenig an tänzerischen Möglichkeiten gesehen hat.

Das Publikum ist es zufrieden und feiert die Tänzer.

Michael S. Zerban