O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Verrückter Franz

DIE GESÄNGE DES FRANZ BIBERKOPF
(Michael Gerihsen)

Besuch am
15. Dezember 2021
(Uraufführung)

 

Literaturoper Köln im Urania-Theater, Köln

Der Roman Berlin, Alexanderplatz von Alfred Döblin wird heute in einer Reihe mit James Joyce‘ Ulysses und John Dos Passos‘ Manhattan Transfer gesehen. Wir reden hier also über ein Meisterwerk der Moderne, das sich durch „innovativen Aufbau, expressive Sprache und poetische Erzähltechnik“ auszeichnet. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, wie der 1929 veröffentlichte Roman im Untertitel heißt, ist zugleich ein Großstadtroman und ein Zeitgemälde der 1920/30-er Jahre, das heute wieder mehr und mehr an Aktualität zu gewinnen scheint. Die Geschichte vom einfachen Lohnarbeiter, der immer wieder versucht, in der Metropole Fuß zu fassen und immer weiter unter die Räder gerät, bis er in der Psychiatrie landet, begeisterte seine Leser von Anfang an. Unvergessen ist der großartige Günter Lamprecht in der Rolle seines Lebens in der Fernsehverfilmung von Rainer Werner Fassbinder 1980. Wie will man einen 560 Seiten starken Roman in einer Literaturoper, zumal in diesen Zeiten von begrenzter Dauer, unterbringen? Andreas Durban, Künstlerischer Leiter der Literaturoper Köln, hat eine schlichte Antwort: Gar nicht.

Trotzdem stehen heute Die Gesänge des Franz Biberkopf der Literaturoper Köln erstmalig auf dem Spielplan des Urania-Theaters im Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Matthias Henke kam auf Durban zu und bot ihm eine komplexe Fassung eines Theaterstücks an, das dem Hochschuldozenten auf Anhieb gefiel. Henke schwebte eine Nummernrevue vor, die gleichzeitig die Geschichte von Franz Biberkopf erzählt. Letztlich gelingt eine Textfassung, die beim Zuschauer das Gefühl hinterlässt, am Ende der Aufführung nicht nur in die Abgründe der Protagonisten-Seelen geschaut zu haben, sondern auch den Roman zu kennen. Für die musikalische Seite konnten die beiden den Komponisten Michael Gerihsen gewinnen. Und damit nahm ein neues Projekt der Literaturoper Köln seinen Lauf, das nun im Urania-Theater zur Aufführung kommt.

Bettina Schaeffer, Bastian Röstel und Johanna Risse – Foto © O-Ton

Das Theater hat eine ausreichend große Bühne, um den fünf Protagonisten und einem kleinen Orchester Platz zu bieten. Der Bühnenraum ist vollständig schwarz ausgekleidet. Im Hintergrund ist ein Lichterfeld angebracht. Links drängen sich neun Musiker, denen Stephan Wehr als musikalischer Leiter vorsteht. Rechts sind ein Sofa und ein paar Utensilien untergebracht. Hinter dem Sofa und hinter dem Orchester geben schwarze Vorhänge zusätzlich Platz, damit die Darsteller sich umziehen können. Und sie müssen sich oft umziehen. Durban ist als Regisseur auch für die Bühne und die Kostüme zuständig. Beides ist bis auf das i-Tüpfelchen durchdacht. Insbesondere die Kostüme bereiten viel Freude auf der gut besuchten Tribüne. Mit wenigen Mitteln wie Korsettagen, Kitteln, Brillen und Kopfschmuck lässt Durban die Darsteller immer wieder in zahlreiche andere Rollen schlüpfen. Ein paar Requisiten reichen dem Regisseur, entsprechende Welten entstehen zu lassen. Dazu kommt eine Personenführung, die keinen Moment Langeweile entstehen lässt. Und passend zur Musik hat Michaela Niederhagen sich wunderbare Choreografien einfallen lassen. Dass die Darsteller allesamt keine Ambitionen haben, an einem Charleston-Wettbewerb teilzunehmen, ist klar, aber für die wenigen erforderlichen Schritte reicht es und so kommt ordentlich Schwung in die Aufführung. Thomas Verfoorts untermalt mit den vergleichsweise wenigen technischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, mit seinem Licht sehr schön die Stimmungen, von denen es in der Berg- und Talfahrt zwischen Euphorie und Wahnsinn einige zu zeigen gilt.

Bettina Schaeffer – Foto © O-Ton

Die Studenten der Musikhochschule Köln brillieren mit überschäumender Spielfreude. Als Conférencier glänzt Christopher Auer sowohl mit Bühnenpräsenz als auch mit Textsicherheit. Dank des großen Altersunterschiedes zwischen den Filmschauspielern bei Fassbinder und den Studenten, funktioniert die Besetzung prächtig. Bariton Bastian Röstel kehrt hier nicht so sehr die Geschlagenheit des Franz Biberkopf in den Vordergrund, sondern dessen Aufmüpfigkeit und Widerstand gegen den Unbill, der ihm widerfährt. Das funktioniert hervorragend. Mezzosopranistin Bettina Schaeffer darf neben vielen anderen Rollen auch die Mieze spielen, und sie zeigt die naive Leichtigkeit und den verführerischen Charme bis zum Tod. Eine ebenso große Leistung wie die von Sopranistin Johanna Risse, die mehr Selbstbewusstsein zeigen darf, wenn sie die Lina Pryzaballa und all die anderen Rollen interpretiert, die ihr an dem Abend zugedacht werden. Beim Tenor Leilei Xie fällt es schon schwer, ihm den Ganoven Reinhold abzunehmen, aber das gleicht er mit viel Humor und einem so grottenschlechten Berlinerisch aus, dass das Publikum einen Heidenspaß daran hat, ihm zuzuhören. Musikalisch werden die Sänger nicht gefordert und können sich so umso besser auf ihre darstellerischen Leistungen konzentrieren.

Denn Michael Gerihsen hat eine wunderbare Melange der Musik jener Zeit arrangiert und um eigene Stücke ergänzt. Da wähnt man sich schnell in einem der Vergnügungslokale, in denen der Charleston seine große Zeit feiert, fühlt sich an die Balladen der Dreigroschenoper erinnert oder möchte auch schon mal mitsingen, wenn es heißt Ich küsse ihre Hand, Madame. Kaum hat Andreas Durban seine Begrüßung beendet, entsteht so im Publikum das Gefühl, in einem Varieté-Theater angekommen zu sein, in dem man damals keine Angst vor wilden Stilmischungen hatte. Die Studenten im Orchester liefern unter dem hochaufmerksamen Dirigat von Stephan Wehr eine präzise und liebevolle Interpretation ab.

Die Zuschauer können froh sein, dass die Aufführung vom Sommer in den November verlegt werden musste, denn die dem Stück innewohnende Tristesse, die nur schwer vom wilden Glanz der Zeit übertüncht werden konnte, passt in die doch eher trübe Gegenwart und lässt an vielen Stellen auch das Herz erwärmen. Großartige Musik, eine abwechslungsreiche und dabei durchsichtige Inszenierung, hervorragende Darsteller, die wirklich singen, spielen und tanzen können in einer schlüssigen Geschichte zwischen Operettenglückseligkeit und kalter, grausamer Wirklichkeit – wann gibt es das schon mal in dieser Kombination? Das Publikum weiß es zu schätzen und erklatscht sich gerne noch eine Zugabe. Ja, irgendwie kann Weihnachten jetzt kommen. Und wenn es uns nur ein bisschen besser ergeht als dem armen Tropf Franz Biberkopf, wird der Rest schon werden.

Michael S. Zerban