O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Mike Kleinen

Aktuelle Aufführungen

Dicht gewebt

GAIA. MEERESLUST
(Kristóf Szabó)

Besuch am
10. März 2022
(Uraufführung am 5. März 2022)

 

F.A.C.E. Ensemble, Orangerie-Theater, Köln

Ivó Kovács kann sich zurücklehnen. Der junge Videokünstler aus Budapest hat den Großteil seiner Arbeit hinter sich. Jetzt muss er lediglich darüber wachen, dass seine Projektionen fehlerfrei über die Bühne gehen. Über die investierten Arbeitsstunden mag er nicht reden, aber über das Lob für seine Arbeit mit verschiedenen Rendering-Programmen freut er sich schon. Kristóf Szabó hat mit dieser Videokunst eine neue Ära eingeleitet. Während er in früheren Arbeiten Kovács anhielt, mit den raumfüllenden Projektionen eine Parallelgeschichte zu erzählen, haben die beiden sich dieses Mal ganz auf assoziative Bilderwelten eingelassen. Und damit einen überwältigenden Effekt erreicht. Erstmals muss der Zuschauer sich nicht mehr auf verschiedene Begebenheiten auf der Bühne einlassen, sondern kann die verstärkende Wirkung der Videobilder genießen, die das Bühnengeschehen unterstreichen.

Überhaupt zeigt sich Regisseur Szabó in seinem neuesten Werk Gaia. Meereslust im Kölner Orangerie-Theater experimentierfreudiger denn je. Gaia – auf Deutsch Gäa – ist in der griechischen Mythologie die personifizierte Erde und eine der ersten Gottheiten. Wer mag, wird sie an diesem Abend in der Person einer der beiden Tänzerinnen wiederfinden. Von Bedeutung ist das nicht. Schon in den ersten Sekunden nach Beginn der Aufführung denkt kein Mensch mehr über den Titel nach. In seinem Spiel zwischen Vergänglichkeit und Lebenslust lässt Szabó die beiden Tänzerinnen so stark in der Stille auftreten, dass er das Publikum sofort in seinen Bann zieht. Annika Hofgesang trägt Karolina Tóth auf die Bühne, ein unverständliches Lied singend. Indem Hofgesang Tóth aus ihren Armen gleiten lässt, fallen verwelkte Blätter auf den Bühnenboden. Die Zeichen der Vergänglichkeit werden die nächste Stunde durchziehen.

Karolina Tóth und Annika Hofgesang – Foto © Mike Kleinen

Hofgesang wirft sich in die Arme eines Menschen, der bislang in skurrilen Nebenrollen und als Bühnenbildner aufgetreten ist. Heute darf Boshi Nawa seine eigentlichen Fähigkeiten einbringen. Mit viel Fleiß hat sich der Künstler ein zweites Standbein aufgebaut. Der Bondage-Rigger-Meister gibt Workshops und Partner-Seminare, um seine Leidenschaft weiterzugeben. Längst hat die kunstvolle Fesselung ihr Schmuddel-Image hinter sich gelassen und hat sich zu einer von vielen Formen der Selbstfindung und -verwirklichung weiterentwickelt. Jetzt gibt er ein Beispiel seiner Kunstfertigkeit auf der Bühne. Hofgesang trägt bereits ein schwarzes Trikot, auf dem Seile angebracht sind. Boshi Nawa führt die Fesselung fort, windet Seile zwischen die Beine und die Seile um die Brust, um die Tänzerin anschließend daran in die Höhe zu ziehen, wo sie sich unter Windungen dreht. Das hat das F.A.C.E. Ensemble, dessen Künstlerischer Leiter Szabó ist, bereits im Vorfeld angekündigt. Und damit auch neues Publikum angezogen. Dass es im Wesentlichen bei der einen Vorführung bleibt, erscheint zunächst ein wenig enttäuschend. Tatsächlich macht aber die eine Vorführung fast die Hälfte der Aufführung aus. Und eine reine Bondage-Show will Szabó nicht, die wird an späterer Stelle folgen, verspricht er.

In der Zeit bewegt sich Tóth zuckend, offenkundig verletzt ob des Verstoßes, über die Bühne, über der Hofgesang in einer Mischung aus Lust und Verzweiflung kreist. Nachdem Boshi Nawa Hofgesang kunstvoll wieder entfesselt hat, wagt Szabó einen weiteren Vorstoß. Die drei Akteure verlassen die Bühne. Minutenlang dürfen die Zuschauer sich an den Bildern weiden, die Kovács auf die Seiten- und die Rückwand, auf den Boden der Bühne wirft, so dass eine Bild-Box entsteht. Wieder schleichen sich Bilder des Verfalls ein, wenn Kovács einstürzende oder zerbombte Hochhäuser zeigt. Im nächsten Moment gibt es Szenen des Glücks, wenn Hofgesang und Tóth sich einander annähern, ein Anflug von Erotik stellt sich da ein. Endlich geht Tóth den Meister hart an, wirft sich ihm immer wieder in die Arme. Mit dem Bondage-Ring will Boshi Nawa sein nächstes „Opfer“ fangen, doch Tóth ist für den Tod noch nicht bereit. Sie entwindet sich der metaphorischen Angel und wirft sich erneut ins Leben.

Aus dem Programm des portugiesischen Electronic-Labels Crónica erklingt Musik von Davor Mikan und Nicolas Bernier, Heimir Björgúlfsson, Pimmon und Helgi Thorsson, The Beautiful Schizophonic, Quarz und den Rolling Stones. Da hämmert es ordentlich, aber immer passend zu den gezeigten Bildern.

Szabó und sein Team haben, man kann es nicht anders sagen, ein neues Meisterwerk vorgelegt. Das erschließt sich möglicherweise nicht auf den ersten Blick und erklärt, warum das Publikum spartanischen Applaus liefert. Aber die Bilder dieses Abends brennen sich ein. Und das erlebt man nicht so oft.

Michael S. Zerban