Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
FRAGMENTS – STARLINK – MEDUSA
(Jens Kuklik)
Besuch am
24. August 2021
(Uraufführung am 22. August 2021)
Atelier Mobile – Travelin‘ Theatre, Open-Air-Spielstätte am Weidenweg, Köln
Kaum hat man das Theatergrundstück von Jens Kuklik auf den Poller Wiesen am linksrheinischen Kölner Ufer betreten, kann man sich eines romantischen Gefühls kaum erwehren. Hier fällt man schneller aus der Zeit, als man sich einmal umgeschaut hat. Kuklik ist gerade dabei, sich einen Traum zu erfüllen. Fernab der Zivilisation, die erst zehn Meter hinter dem Deich wieder beginnt, kann man für einen Abend mal die Welt vergessen – nicht aber, ohne sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen. Auf dem Gelände entsteht allmählich eine komplette Theaterstruktur. Kunstgegenstände finden sich zwischen Containern und dem historischen Umzugswagen. Die Bühne nimmt allmählich Formen an. Palettenstapel und Holzbänke laden zum Verweilen ein. Inzwischen gibt es auch so etwas wie eine improvisierte Bar. Ja, gewiss, man muss sich auf dieses Umfeld einlassen, um seiner Faszination zu erliegen. Aber wenn einem das gelingt, kann man sich hier ganz unbeschwert glücklich fühlen und das Hirn öffnen für die neuen Eindrücke, die auf das Publikum warten.
Foto © O-Ton
Für sein neues Stück Fragments – Starlink – Medusa hat sich Kuklik nicht auf die Bühne beschränkt, sondern gleich das gesamte Grundstück in einen imaginären Parcours aufgeteilt. Das bewirkt zweierlei. Der technische Aufwand ist enorm. Die Darsteller werden mikrofoniert, die Besucher bekommen Kopfhörer. Und was mit den zahlreichen Scheinwerfern passiert, wenn es mal kein regenloser, lauer Sommerabend ist, möchte man lieber gar nicht wissen. Den Darstellern fehlt der Halt der konkreten Bühne, und damit wird es schwer, sich auf den Auftritt in der üblichen Konzentration vorzubereiten. Aber nach ein paar textlichen Holperstellen finden sie sich ein und bewältigen den enorm umfangreichen Text auf streckenweise höchstem Schwierigkeitsgrad ohne nennenswerte Ausfälle.
Vier paarig angeordnete Dreieckssegel etwa in der Mitte des Spielfeldes deuten die Rahmenhandlung des Stückes an. Die Fregatte Méduse lief im Juli 1816 vor der Küste Westafrikas auf Grund. Nur jeder zehnte der Schiffsbrüchigen, die tagelang hilflos auf einem Floß im Meer trieben, überlebte, nicht zuletzt durch Kannibalismus. Kuklik erzählt die Geschichte und lässt sie in eine hochnotpeinliche Befragung des Kapitäns münden, der als einer der ersten das Schiff verließ. Aus dieser Situation heraus gibt es Ausflüge in die Welt der missglückten Entdeckungen der Welt. Da geht es von der Mythologie über den Kolonialismus bis zur Künstlichen Intelligenz. Archäologische Expertisen, die auf die im Rasen verteilten Fundstücke rekurrieren, sorgen für Verfremdung, während zwei Tänzerinnen Stimmungen abstrahieren.
Kuklik kann auf ein bewährtes Team zurückgreifen. Am Konzept hat Bruder Holger mitgearbeitet, beim Licht hat Garlef Keßler mitgeholfen und herrlich fantasievolle Kostüme hat Aischa Lina Löbbert mit wenigen Mitteln entworfen. Für die Choreografie zeichnet Geraldine Rosteius verantwortlich. Axel Pulgar sorgt dafür, dass ein hervorragender Ton auf den Kopfhörern ankommt und unterlegt ihn unverbindlich mit musikalischen Klängen. Und wenn der Geruch des frisch entzündeten Holzes im Feuerkorb über den Platz zieht, ist auch der Haptik mehr als Genüge getan.
Foto © O-Ton
Löbbert ist den Anhängern des Ensembles Atelier mobile weniger als Kostümbildnerin, sondern eher als hinreißende Gelsomina in La Strada ein Begriff. Vor zwei Jahren griff sie den Zuschauern eher emotional unter die Haut, jetzt hat sie als rationale Wissenschaftlerin zu spielen. Darstellerisch kann sie damit absolut überzeugen, bezaubernder war sie als Gelsomina trotzdem. Auch Frederike Bohr ist wieder mit von der Partie, nachdem sie erst vor kurzem mit einem eigenen Stück Furore machte. Heute tritt sie als gefallener Engel auf, der mit poetischen Texten begeistert. Thomas Krutmann spielte einen großartigen Zampanó und schlägt sich auch als Kapitän der Méduse überzeugend. Verschiedene Rollen übernimmt Hanno Dinger, der vor allem mit seinem Monolog über künftige Entwicklungen sehr nachdenklich stimmt. Seulki Hwang und Lara Pilloni schließlich tragen gekonnt so manches tänzerische Gefecht aus, nachdem sie zunächst als Tote begonnen haben, um fortan irrlichternd neben der Handlung aufzublitzen.
Überwältigt applaudieren die 40 Besucher – viel mehr sind unter den Corona-Restriktionen nicht zugelassen – einem Abend, der Kultur mit Kopf, Herz und Seele bietet, ohne von Subventionen in berauschender Höhe erschlagen zu werden. Wunderbare Darsteller mit einem stimmigen Konzept in schier außerirdischer Atmosphäre, die nur gelegentlich von aufsteigenden Flugzeugen oder Gänseschwärmen durchkreuzt wird. Da geht man mit dem Gefühl nach Hause, etwas ganz Besonderes erlebt zu haben.
Weitere Aufführungen sind vom 26. bis zum 29. und am 31. August zu erleben. Unbedingt empfehlenswert – auch für Theateranfänger.
Michael S. Zerban