O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Marius Buschmann

Aktuelle Aufführungen

Ungeahnte Parallelen

DAS ERDBEBEN IN CHILI
(Henrik Albrecht)

Besuch am
8. September 2021
(Uraufführung)

 

Urania-Theater, Köln

Ist die Zeit stehengeblieben? Scheinbar vollkommen unverändert liegt das Urania-Theater im Kölner Stadtteil Ehrenfeld da, mit den paar Tischen und Sitzgelegenheiten vor der Tür. Altbekannte Gesichter, die einen fröhlich begrüßen, weil es wieder ein großes Fest zu feiern gilt. Nein. Die 3G-Regeln werden abgefragt und im Haus gibt es Maskenpflicht. Es ist also wirklich reines Glück, dass die Literaturoper Köln die Krise anscheinend unbeschadet überstanden hat und heute eine Uraufführung zeigen kann. Bei der Entstehung des neuen Werks Das Erdbeben in Chili ganz frei nach einer Novelle von Heinrich Kleist hatte die Corona-Krise noch eine Rolle gespielt, erzählt Regisseur und Librettist Andreas Durban vor Vorstellungsbeginn. Entstanden sei das Libretto zur neuen Oper an seinem Wohnort Bad Münstereifel. Da habe die Corona-Krise noch im Mittelpunkt gestanden und er nicht die geringste Idee gehabt, dass seine Stadt demnächst durch ein Hochwasser vollkommen zerstört sein würde. Von kriegsähnlichen Ausmaßen war in den Medien über den einst beschaulichen Ort in der Eifel zu lesen. Da kommt die Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts ganz unversehens in der Gegenwart an.

Die Spiele mögen beginnen. Regisseur Durban stellt keine Bezüge zur Gegenwart her, das müssen die Zuschauer schon selbst leisten, sondern erzählt die Geschichte zur Zeit der Handlung. Und da leistet Angela C. Schuett als Kostümbildnerin wahre Wunderwerke. Schließlich müssen die rollengerechten Kostüme nicht nur die Zeit der Handlung repräsentieren, sondern bei Mehrfachrollen auch innerhalb von Minutenbruchteilen wechselbar sein. Das gelingt ganz wunderbar. Die Bühne ist in mehrere Räume aufgeteilt. Vor dem Hauptspielraum, in dem in der ersten Szene ein großer Esstisch aufgestellt ist, der danach unwiederbringlich verschwindet, ist ein Gaze-Vorhang angebracht, vor dem ein weiterer Raum entsteht. Auf der linken Seite sind die Musiker mit Flügel und Schlagwerken untergebracht, was für einen Engpass beim Abgang sorgt. Thomas Vervoorts sorgt dafür, dass die Räume vernünftig ausgeleuchtet werden. Projektionen von Julia Suermont auf den Gaze-Vorhang und den Hintergrund zahlen wenig auf die Aufführung ein, sorgen aber für plastische Tiefe.

Foto © Marius Buschmann

Die Geschichte, die Durban nach Heinrich Kleist erzählt, ist gut verständlich, wenn auch nach heutigen Maßstäben nicht mehr ganz nachvollziehbar. Josephe wird in beengten Verhältnissen aufgezogen. Auf Schritt und Tritt werden ihre Bewegungen verfolgt. Nach Durban führt das zum Tourette-Syndrom, das er aber glücklicherweise nicht weiter vorantreibt. Der Hauslehrer Jeronimo wird vom Vater eingestellt. Ein Revolutionär, der mit einem Holzschwert herumfuchtelt. Einer von Durbans Einfällen, die aus der Oper einen herrlichen Theaterabend machen. Immerhin beeindruckt Jeronimo Josephe derart, dass der Vater sie vorsorglich im Kloster unterbringt. Kann ja keiner damit rechnen, dass Jeronimo sie bis ins Kloster verfolgt und dort auch gleich schwängert. Heute wäre Josephe nicht einmal bis ins Kloster gelangt und die Kopulationsszene weniger prüde ausgefallen. Zur Zeit der Handlung werden die beiden „Sünder“ zum Tode verurteilt, und nur ein Erdbeben kann den Tod der Liebenden verhindern. Die beiden treffen sich in einem Tal der Glücklichen wieder, ehe sie auf Fernando und seine Frau Constanze treffen, deren Kind Josephe stillt, während die Opfer des Erdbebens sich in Solidarität üben. Als die vier einen Dankgottesdienst besuchen, entzündet sich wider Erwarten der Zorn des Volkes gegen die „Sünder“, Jeronimo, Josephe und Constanze sterben ebenso wie das Kind von Fernando und Constanze. Fernando bleibt mit dem Kind von Jeronimo und Josephe allein zurück. Durban als Schauspieler und Psychologe entwickelt die Geschichte in fließenden Szenen, nimmt sich mit Zwischenstationen wie einer Badewanne oder der Kirche Zeit und führt die Studenten eng an der Hand.

Bassbariton Thomas Huy taucht nach der Aufführung, noch im Kostüm, kurz vor dem Theater auf. Irrlichternd blickt er in das Dunkel der Straße. „Ich habe gerade mein Kind und meine Frau verloren. Ich muss mich erst mal erholen“, sagt der Sänger, der gerade eben noch den eindrucksvollen Schlussauftritt absolvierte. Auf diesem Niveau findet die Uraufführung statt. Die Studenten der Musikhochschule Köln spielen und singen mit Leidenschaft. Zuvörderst ist sicher Bettina Schaeffer zu nennen, die Josephe inbrünstig und nuanciert singt. Ein Volltreffer in jeder Beziehung. Juliane Bogner als Constanze, Johanna Risse in der Rolle ihrer Schwester Elisabeth erfüllen ihre Rollen ebenso beglückend wie die chorisch in Mehrfachrollen auftretenden Yewon Kim, Céline Kammin, Carolin Glomb und Silja Bothe. Opernsänger zu werden, ist in Deutschland in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Aber welch steiniger Weg vor diesen vielversprechenden Nachwuchstalenten liegt, vermag man sich derzeit noch nicht vorzustellen. Es ist zu hoffen, dass sich hier Perspektiven ergeben, die derzeit kaum absehbar sind.

Einmal mehr hat Henrik Albrecht die Komposition der Literaturoper übernommen. Im süffigen Melodienfluss lässt er den Sängern die Oberhand. Viel mehr Instrumente hat er sich gewünscht, die aus Platzgründen Corona-bedingt wieder nicht stattfinden dürfen. Und so bleiben Georg Leisse als musikalischer Leiter am Flügel und Jeongwhan Kim am Schlagwerk übrig. Letzterer konnte erst eine Woche zuvor seine Aufgabe übernehmen. Die beiden sorgen für die Stimmung, die ab dem Gerichtsurteil bis zum Auftritt des Mobs irisierend bleibt.

Ohne Übertreibung kann man sagen, dass nach eineinviertel Stunden ein ganz großer Abend zu Ende gegangen ist. Das Publikum beharrt geradezu darauf, den Applaus fortzusetzen. Und den jungen Leuten sei angeraten, die Belobigungen selbstbewusst anzunehmen. Sie haben sie sich verdient.

Michael S. Zerban