O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Lebenserfahrung gewinnt

DIVERSITY #4
(Silke Z., Angus McLean Balbernie, Lisa Thomas)

Besuch am
17. November 2023
(Uraufführung)

 

Ehrenfeldstudios, Köln

Mit 40 bist du raus“. Dieser Spruch galt professionellen Tänzern in früheren Zeiten als eiserne Regel, egal, ob sie im Ballett oder im zeitgenössischen Tanz ihr Geld verdienten. Bis zu diesem Zeitpunkt musste man sich zum Choreografen entwickelt haben, am besten mit einer eigenen Kompagnie, sonst sah es düster aus. Seit einigen Jahren hat hier ein Umdenken eingesetzt. Großen Anteil daran trägt Silke Z., die mit ihrem Ensemble Die Metabolisten nicht nur älteren Tänzern Mut macht, sondern sogar ältere Laien motiviert, sich am zeitgenössischen Tanz aktiv zu beteiligen.

Im vergangenen Jahr rief Z. die Gastspielreihe Diversity ins Leben, bei der Gäste zu bestimmten Themen in die Kölner Ehrenfeldstudios, die sie leitet, eingeladen werden. Bisher gab es drei Diversity-Themen: Inklusion und Teilhabe, Gender und Sexualität sowie Privilegien, Wertschätzung und Rassismus. Der heutige Abend mit dem Titel Diversity #4 beschäftigt sich mit dem Thema Alter, Alltag und Sichtbarkeit, das auch in den nächsten Folgen wieder verstärkt in den Fokus rücken soll.

Lisa Thomas – Foto © O-Ton

Die Ängste, Vorbehalte und Ressentiments auf beiden Seiten, also Tänzern und Publikum, sind allgemein bekannt. Wer will noch „alte Körper“ auf der Bühne sehen? Besitzen ältere Menschen ausreichend Kondition und Beweglichkeit, um attraktiven Tanz zu zeigen? Kann man das überhaupt noch professionell gestalten, oder wird so ein Auftritt eher zu einem lächerlichen Schaulauf, der vom Publikum, sofern es überhaupt eines gibt, allenfalls wohlwollend mitleidig beklatscht wird? Genauso bekannt ist inzwischen aber auch, dass das alles Quatsch ist. Besonders gute Ergebnisse können allerdings erzielt werden – dem gesunden Menschenverstand klingt das eher nach Binsenweisheit, was Z. in ihrer jahrelangen Erfahrung gelernt hat – wenn die Generationen auf der Bühne zusammentreffen. Aber wird das den Bedürfnissen der Älteren gerecht? Damit setzt sich der heutige Abend auseinander, bei dem die Bühne allein den Alten gehört. Die Akteure stellen sich dabei nicht die Frage, ob sie überhaupt schon alt sind, wann Alter beginnt und wie sich das auswirkt. In einer Gesellschaft, in der die Altersdiskriminierung so rasch wie noch nie voranschreitet, Menschen ab dem 50. Lebensjahr in der Unsichtbarkeit zu verschwinden scheinen, braucht man über solche Dinge nicht mehr zu diskutieren, sondern kann allenfalls seine Lebenserfahrung in die Waagschale werfen. Dann allerdings verschieben sich überraschend schnell die Gewichte.

Zu den Gepflogenheiten der Diversity-Reihe gehört, dass Silke Z. einen Prolog in Form einer eigenen kurzen Choreografie zu einem der nachfolgenden Themen kreiert. Für diesen Abend hat sie sich gemeinsam mit Karel Varnĕk und Bettina Muckenhaupt für die Gast-Aufführung entschieden. Muckenhaupt ist Schauspielerin und 68 Jahre alt, Varnĕk ein 65-jähriger Tänzer. Die drei sind ein eingespieltes Team und praktizieren das, was inzwischen allmählich zum guten Ton gehört: Choreografien werden nicht mehr von dem „Genie“ an der Spitze des Ensembles vorgegeben, sondern gemeinsam auf Augenhöhe erarbeitet. Die beiden Tänzer beginnen, sich auf der leeren Bühne nebeneinander in mehrlagigen Kostümen zu bewegen. Sie scheren auseinander, Annäherungen bleiben Versuche, bis sie schließlich im Geflecht ihrer Haare zueinanderfinden. Das schöne alte russische Sprichwort „Wenn die Jugend wüsste, wenn das Alter könnte“ trifft hier sicher nur bedingt zu, denn das Alter kann sehr wohl. Dynamik und Einfallsreichtum lassen hier jedenfalls keine Wünsche offen.

Einen anderen Zugang wählt Angus McLean Balbernie. Mit 69 Jahren interessieren ihn die wilden Exzesse junger Tänzer nicht mehr. Er hat sich mehr als ausgetobt in seinem Leben, hat getanzt, choreografiert, improvisiert und unterrichtet. Ihn interessiert die Aufgeregtheit, mit der Themen heute durch die Gesellschaft geprügelt werden, nicht mehr. I Like Crime Shows, Mountains and Maybe 3 People lautet konsequent der Titel seines Improvisationssolos: Ich mag Krimiserien, Berge und vielleicht drei Leute. Er betritt die Bühne mit einem Notebook, das kaum größer als ein Tablet ist, und einem Stuhl. Eigentlich hätte hier jetzt die ganz große Show stattfinden können, mit neun Tänzern oder so. Stattdessen wolle er hier eine Präsentation zeigen, erzählt er. Aber wenn jemand aus dem Publikum zum Tanzen auf die Bühne kommen wolle, sei derjenige herzlich eingeladen. Während eine zweisprachige Präsentation auf dem Notebook abläuft, das auf dem Stuhl seinen Platz gefunden hat, bewegt Balbernie sich durch den Raum. Es ist ein Erlebnis, ihm zuzuschauen, wenn er zwischen den Gängen in hauchzarte Tanzposen verfällt, eben so angedeutet, um dann weiter zu parlieren. Wenn es irgendeines Beweises bedurfte, dass sich zeitgenössischer Tanz nicht in HipHop oder Urban Dance erschöpft, liefert ihn Balbernie mit altersphilosophischer Weitsicht und tänzerischer Grandezza zu unterschiedlichsten Musikrichtungen – nicht ohne, die Zuschauer mit typisch britischem Humor zum Schmunzeln zu bringen. Hinter diesem Auftritt kann sich so mancher Hype verstecken.

Angus McLean Balbernie – Foto © O-Ton

Aus Ludwigsburg hat Silke Z. die 63-jährige Tänzerin, Choreografin und Pädagogin Lisa Thomas mit ihrem zweiteiligen Programm Dance Your Skin – Tanze deine Haut – eingeladen. Im schwarzen Kostüm, unter dem sie ein hautfarbenes T-Shirt trägt, und mit dickem, schwarzem Brillengestell empfängt sie die Besucher nach der Pause zu ihrer Ausstellung. Es gibt Fotos von ihr zu sehen, auf verschiedenen Monitoren laufen Videos. Da lässt sie in Hautfalten Perlen hin- und herlaufen, zeigt auf drei großflächigen Bildschirmen die flatternden Hautpartien während des Gebrauchs einer vibrierenden Plattform. Ungewöhnliche Sichtweisen auf den Körper einer Tänzerin, die alsbald zu einem Vortrag anhebt über die Sichtbarkeit alternder Tänzerinnen. Jung und nach Möglichkeit nackt ist nach ihrer Ansicht die Grundvoraussetzung, um auf eine Bühne zu kommen. Ihre Schilderungen zu den Veränderungen des weiblichen Körpers im voranschreitenden Alter sind köstlich. Da ist deutlich von Bindegewebe und Schwerkraft die Rede. Und dann wird die Brust unter dem T-Shirt aus dem Blazer hervorgezogen, was in einem Tanz beider Brüste unter massivem Handeinsatz mündet. Mit einer Demonstration, welche Bewegungsmöglichkeiten der Bauchansatz unter dem Einsatz einer flackernden Taschenlampe bietet, endet der erste Teil. Der zeigt vor allem, dass es zwischen Himmel und Erde mehr aufregende Körperformen gibt als die Hühnerbrüste von Balletteusen und heranwachsenden Tänzerinnen.

Im zweiten Teil geht es in den Saal zurück, wo Thomas sich als Tanzdiva präsentiert, nicht ohne, die flatternde Haut der Oberschenkel noch einmal in aller Ausführlichkeit, aber auch ihre Gelenkigkeit zu zeigen, wenn das Bein sich kerzengerade in die Höhe reckt. Wermutstropfen ist das Gegenlicht, in dem sie sich umkleidet. Eigentlich gemeint war wohl, ihre Silhouette während des Umziehens zu zeigen, aber mehr als eine massive Blendung des Publikums kommt dabei nicht heraus. Geschenkt. Das schwarze Kostüm, das den Bauch freilässt, ist ein Hingucker. Ästhetik ist ein wandelbarer Begriff. Thomas zeigt, dass man hier noch viel lernen kann.

Das Publikum bedankt sich lange und ausführlich. Was also ist aus diesem Abend mit viel Unterhaltungswert zu lernen? Wohl am ehesten, dass der Ansatz von Z. überzeugt, vielen Generationen auf einer Bühne Platz zu bieten. Für den zeitgenössischen Tanz und damit für das Publikum bieten sich da noch viele Entwicklungsmöglichkeiten.

Michael S. Zerban