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Kräftiger Wirkverlust

DANCE AGAINST WAR
(Diverse Choreografen)

Gesehen am
6. März 2022
(Live-Stream)

 

Tanzfaktur, Köln

Ein Vierteljahrhundert lang konnten die Kulturarbeiter das Internet ignorieren, wenn nicht sogar negieren. Immerhin, die meisten Institutionen akzeptierten die Netz-Welt als Marketing-Möglichkeit. Aber wie sie ihre Arbeit in diese neue Welt ausweiten könnten oder womöglich sogar müssten, darüber überhaupt nachzudenken schien geradezu verpönt. Schließlich ist die Kultur doch für die Bühne da. Dann kamen die so genannten Lockdowns. Eine ganze Gesellschaft wurde weggesperrt, die Türen der Institutionen zwangsgeschlossen. Wer jetzt noch sichtbar bleiben wollte, musste im Internet von 0 auf 100 durchstarten. Na ja, die wenigsten schafften es immerhin auf 0 bis 50 Prozent. Inzwischen können die meisten Häuser wieder spielen, wenn auch mit Einschränkungen. Aber haben sie auch aus den zurückliegenden Jahren gelernt, beginnen endlich, das Internet in ihre Arbeit miteinzubeziehen? Die Zweifel sind groß.

Die Tanzfaktur in Köln lädt zur Aufführung Dance Against War, also Tanz gegen Krieg, ein. Eine Solidaritätsveranstaltung, die in der Werkshalle viele Künstler versammelt, die ohne Honorar auftreten, um den Ukrainern möglichst viel Geld zukommen zu lassen. Da scheint es ein kluger Gedanke, die Aufführung außerdem als Live-Stream zu zeigen, weil man damit ganz andere Zuschauerzahlen erreichen kann. Wenn man weiß, wie es geht. Zudem arbeiten in der Tanzfaktur überwiegend junge Leute, denen man eine gewisse Technikaffinität unterstellen darf. Eine gute Gelegenheit, sich mal anzuschauen, wie weit die technischen Möglichkeiten einer solchen Übertragung inzwischen fortgeschritten sind. Pünktlich um 16 Uhr schaltet die Videoplattform den Datenstrom frei. Das interessiert in Köln allerdings niemanden. Erst 20 Minuten später geht die Tanzfaktur auf Sendung. Im Internet ist die nächste Attraktion einen Mausklick weit entfernt. Dafür sind 20 Minuten eine sehr lange Zeit. Das relativiert sich, weil ohnehin laut Zählwerk der Videoplattform nur 20 Menschen zuschauen. Und die sind hartnäckig genug, in der Wartezeit nicht abzuspringen. In der Spitze werden es allerdings auch nicht mehr als knappe 40 Zuschauer werden. Da gibt es im Marketing offenbar noch Verbesserungspotenzial. Oder auch nicht. Denn nach dem, was das Publikum am heimischen Computer geboten bekommt, ist es vielleicht sogar ganz gut, dass die Übertragung nicht so viele Menschen zu sehen kriegen.

Slava Gepner und Yana Novotorova – Bildschirmfoto

Auf dem Bildschirm ist die Standardbühne in der Werkshalle zu sehen. Im Hintergrund gibt es eine kleine Leinwand, auf der unter anderem die Geschehnisse auf der Bühne gezeigt werden. Das irritiert insofern, als die Ereignisse zeitversetzt gezeigt werden. Slava Gepner, Künstlerischer Leiter der Tanzfaktur, und Yana Novotorova, eine Tänzerin und Choreografin, die in Russland geboren wurde, in Kiew aufgewachsen ist und seit zehn Jahren in Deutschland lebt, führen durch die Sendung. Während Gepner auf Deutsch versucht, die aktuellen Ereignisse auf eine höhere Ebene zu führen, ist es Novotorovas Aufgabe, die emotionalen Entwicklungen auf Englisch abzubilden. Weil, so erklärt sie, sie darauf hofft, dass möglichst viele Menschen international zuschauen werden.

Das Eröffnungssolo übernimmt Alena Shornikova. Sie ist in Russland aufgewachsen, erinnert mit ihrem Tanz an das ukrainische Dorf, in dem ihre 88-jährige Großmutter lebt. Sie bringt das Abartige an Putins Überfall auf die Ukraine auf den Punkt. Zwischen Russland und der Ukraine gibt es enge familiäre Bande. Kaum jemand, der nicht eine Cousine, einen Großvater oder enge Freunde im jeweils anderen Land wohnen hat. Shornikova weist auch darauf hin, dass die Propaganda-Maschine in Russland funktioniert. Die Gleichschaltung der Medien ist vollzogen, die Drohungen des russischen Staates gegen seine Bürger funktionieren. Wer sich abfällig über das Militär äußert, öffentlich protestiert oder sich sonstwie gegen die Regierung auflehnt, muss damit rechnen, bis zu 15 Jahre ins Gefängnis zu gehen. Shornikova berichtet, dass viele ihrer Kollegen von der Idee eines Solidaritätsabends zunächst begeistert waren, später aber wegen der drohenden Konsequenzen absagten. Die Angst der Russen vor dem staatlichen Durchgriff ist groß, denn die Härte des Staatsapparats ist bekannt.

Eigentlich sieht die Dramaturgie an dieser Stelle noch eine Steigerung vor. Aber die Technik scheitert. Die Schalte in die Ukraine via Zoom wird zur Katastrophe. Und es ist nicht etwa eine kleine Panne, über die jeder gern hinwegsieht, sondern ganz offensichtlich hat hier jemand unprofessionell und blauäugig die Technik in die Hand genommen, ohne sie zu beherrschen. Bei jedem Stadttheater wäre die Übertragung wegen technischer Fehler abgebrochen worden. Die Schalten funktionieren nicht, Akteure, die Texte auf der Bühne aufsagen, sind nicht mikrofoniert, Mikrofone werden nicht rechtzeitig freigeschaltet, so dass ganze Textteile verlorengehen. Drei Stunden lang geht das so.

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Rückblickend kann man festhalten, dass es ein fantastisches Programm gewesen wäre, das da in der Kürze der Zeit zusammengestellt wurde. Julia Grishina mit zwei Videos, Lisa Frieg bringt ein Duo auf die Bühne, bei dem sich zwei Tänzerinnen streiten und vertragen, Darya Myasnikova aus Sibirien hält eine Ansprache – die nicht verständlich ist – in Verbindung mit ihrem Solo. Sehr eindrucksvoll eigentlich auch die vier Tänzer in orangefarbenen Ganzkörper-Schutzanzügen mit Gasmasken, die tonlos Fahnen schwenken. Marje Hirvonnen liefert diesen Beitrag. Auch Illia Miroshnichenkos Duo The Wall funktioniert – zu diesem Zeitpunkt schon: wider Erwarten. Es gibt in buntem Wechsel eine Jonglage, Videos und Live-Auftritte, die unter den technischen Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten zunehmend uninteressanter werden.

Dass Gepner sich vor dem Ende der Übertragung mit dem lapidaren Hinweis verabschiedet, ein paar Pannen könnten nichts an der Solidarität ändern, ist nur damit zu erklären, dass er von der Übertragungsqualität im Saal nichts mitbekommen hat. Prompt endet die Veranstaltung mit einem weiteren Missgeschick. Da wird ein als drei Minuten dauerndes Video angekündigt, das dann 20 Minuten lang läuft und so dem Zuschauer am heimischen Monitor das Schlussbild mit allen Akteuren vorenthält.

Ein komplett missglückter Abend, jedenfalls, was den Live-Stream betrifft. Muss man darüber berichten, anstatt gnädig den Mantel des Vergessens darüber auszubreiten? Ja. Immerhin hat die Tanzfaktur den Mut bewiesen, einen Versuch zu unternehmen. Und da möge niemand mit dem Finger zeigen, vor allem die zahlreichen Benefizkonzerte nicht, die derzeit wieder so tun, als gäbe es die Online-Welt nicht. Noch immer nehmen die Kulturarbeiter ihren Weg in die Zukunft nicht ernst. Die Frage ist, wie lange das noch gut geht.

Michael S. Zerban