O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Gegen Hass und Hetze

CALOMNIE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
25. November 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Les Lumières, Institut Français, Köln

Städtepartnerschaften sind etwas Wunderbares. Menschen aus verschiedenen Ländern verbinden sich, weil ihre Städte ähnliche Strukturen und damit auch ähnliche Probleme haben. Da kann man viel voneinander lernen, wenn man es nicht bei Anstandsbesuchen der jeweiligen Bürgermeister und ihrer Wirtschaftsdelegationen belässt. Und so haben sich viele private Initiativen gebildet, die mit viel ehrenamtlichem Engagement Projekte anstoßen. Das bedeutet gegenseitige Besuche, die für viele Freundschaften gesorgt haben und für viele Menschen eine Horizonterweiterung bedeutet. Sprachbarrieren, so zeigt die Erfahrung, spielen dabei eher eine untergeordnete Rolle. Man begegnet sich mit viel Respekt, lernt voneinander und bekämpft Vorurteile. Der Freundeskreis Köln – Lille und die Association Cologne – Lille – Erfurt sind ein gutes Beispiel dafür.

Die beiden Vereine haben jetzt ein Projekt unter dem Titel Calomnie, also Rufmord, vorgestellt, mit dem sie das Schicksal von Roger Salengro aufarbeiten und damit eine Brücke schlagen zu heutigen Entwicklungen von Hass und Hetze im Internet. Die Idee dazu hatte Axel Bornkessel. Clara Bauer, Victor Di Bartolo, Léa Rivière und Rémy Spriet sind Studenten aus Lille. Sie haben eine kleine Ausstellung über Salengro erarbeitet.

Jee Young Choi – Foto © O-Ton

Sein Name ist vor allem im französischen Norden bekannt. Straßen, Plätze, Schulen und sonstige Einrichtungen tragen den Namen von Roger Salengro. Der wurde am 30. Mai 1890 im Arbeiterviertel Lille-Fives geboren. Er wird ein wahrer Musterschüler, besucht Prestige-Gymnasien, studiert Literatur in seiner Heimatstadt und wird Sozialist. Obwohl überzeugter Pazifist, leistet er ab 1912 seinen Wehrdienst und zieht – wie die meisten Sozialisten – enthusiastisch 1914 in den Krieg gegen den „preußischen Militarismus“. Ein Jahr später gerät er in Gefangenschaft. Nach dem Krieg wird er von einem Militärtribunal wegen Fahnenflucht verurteilt, später aber von einem militärischen Untersuchungsausschuss rehabilitiert. Von 1925 bis 1936 wird er Oberbürgermeister seiner Heimatstadt, 1928 Mitglied der Nationalversammlung, 1936 wird er zum Innenminister der Volksfrontregierung unter Léon Blum. Der Vorwurf der Fahnenflucht bleibt an ihm haften. Eine Hetzkampagne der rechten Presse und die Behauptung des Oppositionspolitikers Henri Becquart, er sei desertiert, treiben ihn in Depressionen. In der Nacht vom 17. auf den 18. November 1936 beendet er sein Leben. So erzählen es Fabrice Casadei und Clara Bauer, deren Text an diesem Abend im Kölner Institut Français vorgetragen wird.

Das Institut Français ist so etwas wie die Heimat des Ensembles Les Lumières unter der künstlerischen Leitung von Michel Rychlinski. Hier fand das Gründungskonzert des Ensembles statt, und seither gibt es regelmäßige Konzerte im Veransstaltungsraum. Die Verbindung war es wohl auch, die dafür sorgte, dass die beiden Vereine das Ensemble einluden, an dem Projekt teilzunehmen. Eigentlich hat Les Lumières den Anspruch, in jeder Größenordnung jeden musikalischen Anspruch zu vertreten. Aber auch hier hat die Pandemie kräftig zugeschlagen. Und so gibt es heute noch den Kammerchor, ein Vokalensemble mit zwölf Personen und statt eines Kammerorchesters ein Septett. Das Septett haben die beiden Vereine am vergangenen Sonntag nach Lille in die Eglise St. Maurice-des-Champs eingeladen, um ihr Projekt zu unterstützen. Heute findet das Konzert im Kölner Institut Français statt.

Jie Zhou – Foto © O-Ton

Henri Marteau war Geiger und Komponist. In Reims 1874 geboren, erlernte der Deutsch-Franzose mit fünf Jahren das Instrument, das sein Vater, ein Textilfabrikbesitzer, in seiner Freizeit spielte. Später komponierte er auch. Rychlinski hat von ihm ein Quintett mit Klarinette ausgewählt, das längst nicht mehr auf den Programmzetteln der Konzertsäle auftaucht. Und seien wir ehrlich, es hat schon mal Gründe, warum ein Werk selbst bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht bis alle Ewigkeit gespielt wird. Rychlinski entdeckt bei dem Stück Einflüsse von Reger und Brahms, was kaum verwundert, dürften die Musiker doch mindestens einander bekannt gewesen sein. Warum das Werk trotzdem Spaß macht, zeigt Antonia Jaeger, die auf ihrer Klarinette die witzigen Aspekte herausarbeitet. Auch Jee Young Choi und Bardh Lepaja an den Geigen, Margot Lemoine an der Bratsche und Noémie Klages am Cello kommen immer wieder mit überraschenden, bisweilen humorvollen Übergängen und Einsätzen daher. Dank ihrer Spielfreude vergeht die Zeit rasch, und damit ist es dann auch gut.

Interessanter kommen die beiden Werke des Hauptteils daher. Robert Lannoy verbrachte seine „besten Jahre“ in Kriegsgefangenenlagern, anstatt seinem Beruf als Komponist nachgehen zu können. Sein bekanntestes Werk ist vielleicht die Filmmusik zu Henri Cartier-Bressons Film Le Retour, die Rückkehr, in dem der Fotograf über die Befreiung Europas berichtete. Nach dem Krieg wurde er Leiter des Konservatoriums von Lille. Zeit seines Lebens faszinierte ihn die zeitgenössische Musik. Zwei Stücke von ihm erklingen bei Les Lumières: La mort de Roger Salengro, der Tod des Roger Salengro, und ein Lamento. Werke im expressiven Spannungsfeld von Wut und Trauer. Wunderbar vorgetragen, leidet die Musik unter der arg trockenen Akustik des Raums. Da kann man sich vorstellen, dass das in der Kirche in Lille noch mal ganz anders geklungen hat.

Zu Maurice Ravels Introduction et Allegro gesellen sich Jie Zhou an der Harfe und Lucie Boulard an der Querflöte hinzu, um das hervorragende Septett zu komplettieren. Ein sehr stimmiger Ausklang eines alles andere als alltäglichen Konzertprogramms. Ist es damit ein Abend gegen Hass und Hetze geworden? Nein, der Aspekt kommt sicher zu kurz. Aber es ist ein Abend, der vor allem an den Menschen Salengro und sein Lebenswerk erinnert, und es ist vor allem ein Abend, an dem sich Menschen vieler Nationen sehr friedlich versammeln, um gemeinsam Musik zu erleben. Und das ist deutlich mehr wert als jedes noch so ambitionierte Projekt.

Michael S. Zerban