O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Klaus Wohlmann

Aktuelle Aufführungen

Gut gemeint

BRENNEN
(André Lehnert, Paula Scherf)

Besuch am
16. November 2022
(Uraufführung)

 

Disdance Project im Bunker k101, Köln

In der friedensverwöhnten Bundesrepublik Deutschland werden oberirdische Bunker seit vielen Jahren als Schandflecke in der Stadtgestaltung wahrgenommen. Gern möchten die Stadtoberen solche Gebäude entsorgen und die oft attraktiven Standorte mit Wohn- oder noch besser Bürogebäuden versehen. Dagegen sprechen zumeist die hohen Kosten, um die Betonmassen abzuräumen. Eine besondere Situation ist im Kölner Stadtteil Ehrenfeld entstanden. Hier gab es bis 1938 in der Körnerstraße eine kleine Synagoge, die dem Pogrom zum Opfer fiel. In den letzten Kriegsjahren, etwa 1942 oder 43, wurde an gleicher Stelle ein Bunker errichtet. Hier sollten im Falle eines Bombenangriffs 1.500 Menschen Schutz finden. Ein Ort der Lebensrettung. Heute sorgt ein Verein dafür, dass im Bunker k101 Kunst und Kultur stattfinden. Zu keinem Zeitpunkt also ging es an dem Ort um Erniedrigung, Isolation oder gar Folter.

Foto © Klaus Wohlmann

In dieses Gebäude verlegt Disdance Project das neueste Stück mit dem Namen Brennen. André Lehnert wollte gern die unterkühlte Atmosphäre der kahlen Räume nutzen, um eine Knastsituation zu simulieren. Aber das funktioniert nicht. Während das Stück läuft, schaut man sich immer wieder um und stellt sich unwillkürlich vor, wie sich hier Menschen in höchster Not versammelten, um einen nächtlichen Angriff zu überleben. Doch der Reihe nach. Mit den Begriffen wird es noch schwierig genug werden. Esin Eraydın ist in Köln geboren und aufgewachsen. Im Programmheft wird sie allen Ernstes als „Deutschtürkin“ bezeichnet. Nach kölschem Verständnis ist sie eine waschechte Kölnerin – und das ist gut und richtig so. Ja gut, Deutsche auch, aber das ist nach kölnischem Heimatverständnis wirklich zweitrangig. Nach dem Abitur ging sie nach Istanbul, um dort Schauspiel und Dramaturgie zu studieren. Später arbeitete sie dort als Schauspielerin und Autorin für Bühne, Film und Fernsehen, war Intendantin des Theaters Artiist Fikir Sanat. Ihr politisches Engagement brachte sie mit der Justiz in Konflikt. Wiederholt wurde sie angeklagt wegen „indirekter Propaganda für Terrororganisationen“, „kommunistischer Propaganda“, „Beleidigung des türkischen Staates und Erdogans“ und „Anstiftung des Volkes zu Propaganda zu Erdoğans Sturz“, jeweils verbunden mit Haftaufenthalten. Rechtzeitig gelang ihr die Rückkehr in die Heimat. Eine erneute Einreise in die Türkei scheint ausgeschlossen, weil ihr dort eine langjährige Haftstrafe droht. Über die Gefängniserfahrungen Eraydıns wollen Lehnert, Paula Scherf und sie selbst ein Stück auf die Bühne bringen, damit „die Menschen auf dieses Thema [nicht nur] aufmerksam gemacht werden, sondern Widerstand leisten“, schreibt Eraydın. Solch persönliche Betroffenheit ist absolut nachvollziehbar, aber aller Erfahrung nach schwierig umzusetzen.

Der Untertitel des Stücks heißt Monodialog mit Diktator. Im Programmheft schreibt Lehnert von seiner „Erfahrung mit der Diktatur in der DDR“. Es ist gut, auf Missstände aufmerksam zu machen, aber gerade dann ist sprachliche Genauigkeit gefragt. Wer ist der Diktator? Recep Tayip Erdoğan sicher nicht. Er ist offiziell mit deutlicher Mehrheit gewählter Ministerpräsident. Dass er ein schlechter Regierungschef ist, dem es offensichtlich nicht gelingt, eine tief zerrissene Gesellschaft zu einen, und dass er gern Diktator wäre, ist das Mindeste, was man über seine Machenschaften sagen kann. Aber nach der Definition, dass ein Diktator derjenige ist, der alleine oder mit einer kleinen Gruppe von Menschen über ein Land herrscht, er nicht von den Menschen gewählt wird, sondern sich selbst zum Herrscher erklärt, ist er es nicht. Und nach derselben Definition gab es auch keine Diktatur in der Deutschen Demokratischen Republik. Von staatlicher Willkür, die es begrifflich ja wohl viel eher trifft, ist hingegen am gesamten Abend keine Rede, die das Ganze hätte auf eine Meta-Ebene heben können. Dafür müssen die Texte sorgen.

Foto © Klaus Wohlmann

Reduziert man das Bühnenwerk auf die Häftlingserfahrungen, ist es immer noch eindrucksvoll genug. Esin Eraydın rezitiert im pinkfarbenen Anzug mit schwarzem Pullover und einem stofflosen Regenschirm Texte von Rainer Maria Rilke, Ernst Toller, Wolfgang Borchert, Jean-Paul Dubois, Sabahattin Ali, Sarah Milena Rendel und Nâzim Hikmat, die im Ergebnis zu den Erfahrungen passen, die ein Häftling im Gefängnis durchlebt. Eindringliche Blicke und die Nähe zum Publikum, wenn sie sich beispielsweise in die erste Reihe setzt, unterstreichen den Vortrag. Die Projektionen, die Lehnert an die seitlichen Wände wirft, verpuffen teilweise, weil von den hinteren Plätzen aus kaum erkennbar. Tropfengeräusche und flackernde Lichter sind das Mindeste, was an den Gefängnisaufenthalt unter unwürdigen Bedingungen erinnert. Warum Paula Scherf an diesem Abend nur in Filmen tanzen darf, erschließt sich nicht so ganz. Da wird eine räumliche Großzügigkeit hergestellt, die eigentlich überhaupt nicht zum Gefängnisalltag irgendwo auf der Welt passt. Vor allem, wenn Lehnert den Raum via Projektion verlängert, was als filmisches Mittel überaus eindrucksvoll ist, aber eben so gar nicht zur drangvollen Enge eines Knastes passt. Das ist umso ärgerlicher, weil sich die Räumlichkeiten durch entsprechende Unterteilung geradezu anbieten, die auch körperliche Freiheitsbeschränkung aufzuzeigen.

So bleibt zwar insgesamt die Intention der Macher erkennbar, verblasst aber in der nicht zu Ende gedachten Umsetzung. Das Publikum ist derweil froh, dass das Stück nach knapp 55 Minuten beendet ist. Viel länger hält man es auch nicht aus, auf Pappkartons zu sitzen. Die physische Unbequemlichkeit mutet ein Regisseur nur dem zu, dem er nicht die Fantasie zutraut, sich in die Situation gedanklich und emotional hineinzuversetzen. Also wem wird hier ein Armutszeugnis ausgestellt? Dessen ungeachtet fällt der Applaus sehr herzlich aus. Und was die Leistung von Esin Eraydın angeht, ist das mit Sicherheit gerechtfertigt.

Michael S. Zerban