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Tätersuche am Mittelmeer

DAS BÖSE UNTER DER SONNE
(Jörg Kernbach frei nach Agatha Christie)

Besuch am
31. August 2021
(Uraufführung)

 

Die Hörspieler im Wildwechsel, Köln

Als wir vor sechs Jahren hier anfingen“, erinnert sich Jörg Kernbach, „sah das Ding aus wie eine bulgarische Autobahnraststätte in den 1960-er Jahren“. Wir, das waren sein Mann, Bernhard Kleysteuber, und der Schauspieler. Beide ohne Ahnung von Gastronomie. Kleysteuber hatte sein Geld bis dahin als Innenausstatter verdient. „Das Ding“ war die Gaststätte direkt vor dem Waldbad im Kölner Vorort Dünnwald. Längst ist ein schmuckes Restaurant im Stilmix entstanden. Der vordere Gastraum teilt sich in Sitzbänke im modernen Kantinenlook und große runde Tische für kleinere Gesellschaften, im hinteren Teil stehen rustikale Tische vor der aufgearbeiteten Theke. Rustikal auch ein Teil des Wandschmucks. Geweihe erinnern an den Namen des Restaurants: Wildwechsel. Eine Art Wintergarten gibt es für die Raucher. Und einen geräumigen Biergarten, der an diesem Abend bis auf den letzten Platz besetzt ist. Denn im Wildwechsel gibt es regelmäßig Live-Hörspiele.

Jörg Kernbach und Julia Karl – Foto © O-Ton

Das Böse unter der Sonne erschien 1941 unter dem Originaltitel Evil under the Sun als 29., wieder hochgelobter Kriminalroman von Agatha Christie. 1982 verfilmte Guy Hamilton als erster den Roman mit einem Aufgebot an Spitzenschauspielern. Das Muster ist hinlänglich bekannt. Eine hermetisch geschlossene Gesellschaft, darunter der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot, versammelt sich an einem mondänen Ort, ein Mord geschieht, meist an einer allseits ungeliebten Person, alle sind verdächtig und die Auflösung bringt den Täter zutage, den man ganz sicher nicht auf der Rechnung hatte. Inzwischen gibt es sechs weitere Verfilmungen, Hörbücher – allein Hörspiele sucht man vergebens. Bis heute Abend. Denn Kernbach und sein Ensemble Die Hörspieler sprechen das Stück mit verteilten Rollen vor Publikum. Es ist nicht die erste Arbeit, rund zehn Bücher hat Kernbach inzwischen geschrieben und aufgeführt. Alles wird live vorgetragen, Aufzeichnungen gibt es nicht. Das ist nach dem Verständnis des Schauspielers ja auch gar nicht möglich. Im Laufe des Abends wird deutlich, warum nicht.

Vorerst beginnt der Abend aber mal mit einem Abendessen. Der Service ist vorzüglich, das Essen schmackhaft. Eine überschaubare Karte, die aber eigentlich für jeden Geschmack etwas bietet. Dass die kugelbäuchigen Männer übermäßig viel Interesse am – zugegebenermaßen in überraschenden Kombinationen angebotenen – Salat heucheln, sind sie selbst schuld. Sie hätten auch zu Wiener Schnitzel, Lammkoteletts oder Currywurst greifen können. Derweil kann man schon mal schauen, wie die Bühne aussieht. Auf der Außenfläche ist im Anschluss an die Außenbar ein Sonnensegel aufgespannt. Darunter finden sich auf einem Podium vier runde Stehtische, vor denen die Mikrofone aufgebaut sind. Links davon ist ebenerdig ein Klavier aufgebaut. Im Hintergrund liegen auf einer Bank jede Menge Requisiten. Wer früh genug da ist, bekommt einen launigen Soundcheck geliefert. Die vier Sprecher nehmen an ihren Mikrofonen Aufstellung. In den kommenden rund 75 Minuten läuft der Service weiter, aus dem Innenraum dringen die Gesprächsfetzen der Gäste, die nicht wegen des Hörspiels gekommen und auch nicht gewillt sind, darauf Rücksicht zu nehmen. Macht ja nichts – die Atmosphäre ist komplett entspannt.

Daniel Sojunow – Foto © O-Ton

Die zahlreichen Rollen, die Kernbach ins Textbuch geschrieben hat, werden von Axel Strohmeyer, Katja Liebing, Julia Karl und ihm selbst gesprochen. Dabei ist die geschlechtliche Zuordnung vollkommen uninteressant. Strohmeyer spricht die 16-jährige Linda genauso überzeugend wie Karl Sir Horace Blatt. Liebing übernimmt die Rolle der Erzählerin vorbildlich, wenn sie nicht gerade die Hotelbesitzerin Daphne Castle oder den Autor Rex Brewster verkörpert. Verdeutlicht werden die Rollen durch wechselnde Kopfbedeckungen und kleine Accessoires. Alsbald kommt kein Hörer mehr damit klar, welche Rollen da eigentlich gerade gespielt werden. Und das ist dem Publikum auch herzlich egal, denn der Augenschmaus bei dem Hörspiel ist so herrlich wie die Charakterzeichnungen. Vom Schnurrbart des Hercule Poirot schon nach wenigen Sekunden völlig überfordert, kommt Kernbach an seine Grenzen, wenn die Hutwechsel im Dialog mit sich selbst kaum noch zu bewältigen sind. Der Abend sprüht nur so von Witz und Komik. Und das ganz ohne Zoten. Herrlich!

Zwischendurch werden bekannte, zum Stück im weitesten Sinne passende Musikstücke eingestreut, die Daniel Sojunow mit Matrosenkäppi stimmungsvoll am Klavier begleitet. Hier läuft bei der Uraufführung noch nicht alles ruckelfrei, aber das glättet sich bei den nächsten Aufführungen. Eindrucksvoll ist die Sopran-Einlage von Karl, die sich mit gekonntem – und gewolltem – Vibrato in die Höhe schraubt. Ansonsten herrscht der Spaß am Gesang vor, der vom Publikum mit viel Zwischenapplaus belohnt wird.

Viel zu schnell ist das Ende des Abends erreicht, der ganz ohne Schenkelklopfer auskommt, aber den Menschen die Freude in die Herzen zaubert. Der Mordfall übrigens wird überzeugend und verständlich ganz nebenbei auch noch aufgeklärt. Was will man mehr?

Und wie bekommt man einen Termin im Wildwechsel? Das ist nicht so einfach. Denn längst ist das Lokal vollkommen ausgelastet. Werbung gibt es keine. Wer das Programm erfahren will, geht auf die Facebook-Seite des Restaurants. Und ohne Reservierung gibt es ohnehin keine Chance. Wer den Abend erlebt hat, weiß auch, warum das so ist. In Köln-Dünnwald, zwischen Waldbad, Boule-Park und Campingplatz.

Michael S. Zerban