Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
AMOK
(Marc L. Vogler)
Besuch am
7. Oktober 2023
(Uraufführung)
Seien wir ehrlich. Wer kennt noch die Novellen von Stefan Zweig? Darüber liest man eben nichts in den so genannten Sozialen Medien, sie werden nicht in Fernseh-Serien gezeigt und bislang gab es auch keine Oper dazu. Aber dazu gibt es ja seit vierzehn Jahren die Literaturoper Köln. Die, wenn es sehr gut läuft, wichtige Texte der Weltliteratur so erzählt, dass man anschließend gern noch mal zum Original greift und nachliest. Das Spektrum, für das Andreas Durban in all den Jahren die Texte auswählte und bearbeitete, nachdem er unter dem Dach der Kölner Musikhochschule die Literaturoper gegründet hatte, reicht von Mary Shelly über Franz Kafka, Emile Zola, Gustav Meyrink, Oscar Wilde bis eben heuer zu Stefan Zweig.
Das Erfolgsgeheimnis der Literaturoper, die über die Jahre mehr und mehr Anhänger gefunden hat, liegt nicht nur in den Libretti, sondern in der Kombination wertvoller Geschichten mit Gegenwartsmusik und den Nachwuchssängern der Musikhochschule, unter denen man schon das eine oder andere herausragende Talent in der Zeit erleben durfte. Fast unmerklich hat sich die Literaturoper mit ihren Eigenkompositionen, bei denen Henrik Albrecht als Komponist bis heute eine tragende Rolle spielt, weiterentwickelt. Erst kamen die Familienangehörigen und Freunde, dann wurde die Literaturoper zu einem Kölner Festival eingeladen, das ein paar Besucher mehr brachte. Schließlich kamen die Professoren der Gesangsklassen, aus denen die Sänger stammten, die an den Aufführungen teilnahmen. Und Intendant Berthold Schneider lud die jungen Sänger zu Gastspielen an sein Wuppertaler Opernhaus ein. Im letzten Jahr brachte es Durban auf dem Plakat gar zum Professorentitel. Das stellte sich als Irrtum heraus. Obwohl an anderen Musikhochschulen Lehrer mit ähnlichen Arbeitsplätzen längst eine Professur innehaben. Aber nun hat die Hochschule die Literaturoper zum „Highlight-Projekt“ erklärt. Das kann man eine exzellente Karriere nennen, auch wenn es lange gebraucht hat. An der Qualität der Arbeit hat sich nichts geändert, wie auch die diesjährige Aufführung mit dem reißerischen Titel Amok zeigt. Und wenn das Urania-Theater im Kölner Stadtteil Ehrenfeld, das seit einigen Jahren die Heimat der Literaturoper ist, bis auf den letzten Platz besetzt ist und der Anteil der älteren Besucher aus dem Silbersee überproportional zugenommen hat, ist das wohl das sicherste Zeichen, das die Institution „angekommen“ ist.
Foto © LOK
Für die Neuproduktion dieses Jahres hat Durban Zweigs Novellen Der Amokläufer und Ungeduld des Herzens ausgewählt. Und er erzählt sie nicht etwa nacheinander, sondern verquickt sie miteinander. Das ist bei Stoffen, die in den Köpfen der Besucher eher weniger präsent sind, ein besonderes Wagnis. Aber der Regisseur wird sie, das sei vorweggenommen, so brillant erzählen, dass es glücklicherweise nicht einmal des Programmheftes bedarf. Das enthält vollkommen überflüssige Rechtschreibfehler und taugt damit nicht zur Lektüre. Im Amokläufer sucht eine verheiratete Frau, die von ihrem Liebhaber geschwängert wurde, Hilfe bei einem unbekannten Arzt. Der entbrennt für sie, wird aber nicht erhört und verweigert die Abtreibung. Wer sich in Erwartung eines um sich schießenden Mannes in einem Supermarkt in die Vorstellung begeben hat, wird also enttäuscht. Vielmehr versteht Zweig unter dem Amoklauf die gefühlsmäßige Entgleisung des Täters, die bei ihm dafür sorgt, dass der Arzt der Frau nachstellt, sich ihr zu Füßen wirft, und als sie ihn nach dem Besuch einer „Engelmacherin“ erneut aufsucht und stirbt, weil sie zu spät kommt, ihren guten Ruf über den Tod und damit über seine Leidenschaft hinaus zu wahren sucht.
In der Ungeduld des Herzens steht Edith, eine halbgelähmte, junge Frau im Vordergrund, die an den Rollstuhl gefesselt ist. Leutnant Anton Hofmiller lernt ihre Schwester Ilona kennen und lieben, wird so in die Familie eingeführt und versucht aus Mitleid, Edith Gefühle zu zeigen. Seine Nettigkeiten sorgen dafür, dass er in die Verlobung gequatscht wird, die er anschließend öffentlich leugnet, weil er weder einen Krüppel an seiner Seite haben noch mit ihm gesehen werden will. Durban verwebt die beiden Geschichten absolut schlüssig bis dahin, dass der Arzt gleichzeitig Ediths medizinische Versorgung übernimmt, ihre Mutter sich in ihn verliebt und Anton einen Handel mit ihm abschließt. Der Schluss überzeugt. Die Regie ist wie immer liebe- und fantasievoll, auch wenn der Versuch, neue Räume herzustellen, indem zwei weiße, transparente Gardinen hin und her gezogen werden, irgendwann ziemlich nervt, weil man auch gar nicht mehr mitbekommt, warum sie gerade wieder bewegt werden müssen. Für die Kostüme ist Angela C. Schuett verantwortlich. Ob bei den Damen gerade Leggins unter Kleidern modern sind, ist nicht bekannt, an diesem Abend scheint es oberstes Gesetz. Was ja nicht schlecht sein muss, sondern eher Geschmackssache ist. Schön ist jedenfalls die Detailverliebtheit der Kostümbildnerin und der große Wurf in Sachen Trauer. Thomas Vervoorts ist für das Licht zuständig, und offenbar hat es da im Urania-Theater inzwischen Fortschritte in Sachen Technik gegeben. Es gibt einige schöne Zusatzeffekte, die vor allem auch funktionieren. Auch in diesem Jahr hat Julia Suermondt die verspielten Video-Projektionen besorgt, sie aber um einige echt starke Videosequenzen erweitert.
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In diesem Umfeld agieren die Studenten gern. Allen voran Christopher Auer, längst eine feste Größe im sich sonst ständig ändernden Ensemble, der als Dr. Condor alles gibt. Ohnehin immer von großer Spielfreude beseelt, hat ihm der Komponist diesmal zwei, drei durchaus anspruchsvolle Stellen in die Rezitative geschrieben. Und seinen „Amok-Song“ radelnd zu absolvieren, ist auch nicht ohne. Die einzige Mini-Arie des Abends bestreitet Laura Kriese als Frau Kekesvalva, Ediths Mutter, zumindest teilweise im Liegen. Ihre Rolle nimmt man ihr trotz des jugendlichen Alters voll und ganz ab. Ebenfalls überzeugen kann Silja Bothe vor allem im glaubhaften Umgang mit der Körperbehinderung der Edith. Da steht ihr Singe Ciftci als blinde Frau des Arztes – und in einer Doppelrolle als Militärkamerad Hofmillers – in nichts nach. Bei beiden gefällt besonders, wie selbstverständlich sie ihre Behinderungen darstellen.
Die „Bettszene“ wird sicher in den kommenden Vorstellungen noch etwas an Erotik gewinnen, ansonsten gefällt Anastasia Kyryrchenko in der Rolle der Ilona als Ediths Schwester mindestens so gut wie Leo Bögeholz Gründer als Anton Hofmiller, der sich noch freispielen wird. Johanna Risse als „unbekannte“ Schwangere ist ideal besetzt. Und wenn man sich – einmal mehr – darüber ärgert, dass die Komponisten der Gegenwart offenbar Arie nicht mehr können, zeigen Ferdinand Krumbügel, Anzhelika Bondarchuk und Emelina Medina Martinez in ihren kurzen, ja, zu kurzen Choreinsätzen als Kameraden Hofmillers stimmlich gekonnt, dass Marc L. Vogler eigentlich mehr drauf hat als rezitativischen Singsang.
Komponist Vogler hat gerade seinen Master in Köln erworben und beweist mit Amok, dass ihm der Titel zu Recht zuerkannt worden ist. Unter der gewohnt exzellenten musikalischen Leitung von Georg Leisse an Flügel und Hammond-Orgel zeigen Cellist Simon Wangen und Sebastian Ascher am Kontrabass so ziemlich alles, was eine Oper musikalisch braucht, um zwei Stunden lang zu unterhalten. Abwechslungsreich, kommentierend, ideenfreudig und mitunter auch durchaus dramatisch begleitet Voglers Musik das Geschehen oder treibt es gar voran. Er liefert wie so viele seiner Kollegen, wenn sie denn einmal die Gelegenheit bekommen, die besten Gründe, warum Opernhäuser viel mehr der Gegenwartsmusik anstatt den musealen Stoffen zugewandt sein sollten.
Das sieht auch das Publikum so, das von Zwischenapplausen absieht, am Ende aber in seiner Begeisterung zurecht keine Grenzen findet. Folgevorstellungen sind an den ersten vier Tagen der kommenden Woche vorgesehen, ein Besuch ist unbedingt empfehlenswert.
Michael S. Zerban