O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Martin Rottenkolber

Aktuelle Aufführungen

Aus der Geschichte lernen

1934 – STIMMEN
(Futur3)

Besuch am
4. September 2020
(Uraufführung)

 

Futur3, NS-Dokumentationszentrum, Köln

Was treibt Menschen an den politisch rechten Rand? Man mag staunen, aber man kann sie danach befragen, wenn man nicht nur mit ihrer Dämonisierung beschäftigt ist. Das fand auch Theodore Abel. Der Mann wurde 1896 als Sohn einer Industriellenfamilie in Łódź geboren, studierte Philosophie und Soziologie in Warschau und Posen, ehe er 1923 in die USA ging. Fasziniert verfolgte er von dort aus die Entwicklungen in Deutschland, wo ein unbekannter Gefreiter aus Österreich gerade dabei war, die Macht an sich zu reißen. Aber Abel war weniger an Adolf Hitler interessiert, auch wenn ihn der Mann eine Zeit lang faszinierte, sondern er beschäftigte sich viel mehr mit der Frage, was ihm die Deutschen in die Fänge trieb. Wie konnte es sein, dass die Menschen in Scharen in die NSDAP eintraten? Methodisch nicht ganz sauber, veranlasste er ein Preisausschreiben für Personen, unabhängig von Geschlecht und Alter, die vor dem 1. Januar 1933 Mitglieder der NSDAP waren oder mit der „Bewegung“ sympathisierten. Zunächst war das NS-Regime von der Idee begeistert und unterstützte den amerikanischen Wissenschaftler. Als die Ergebnisse vorlagen, verweigerte die Regierung allerdings die Herausgabe. Erst 1936 wurden die Aufsätze, die von handgeschriebenen Notizen bis zu umfangreich maschinengeschriebenen Elaboraten reichten, Abel ausgehändigt. Schnell erkannte der, dass die Dokumente für eine statistische Auswertung unbrauchbar waren. Immerhin reichten sie aus, um ein Buch darüber zu verfassen. 1938 erschien Why Hitler came into Power, ökonomisch kein Erfolg, weil sich zu diesem Zeitpunkt niemand mehr ernstlich dafür interessierte, aber es reichte, seine wissenschaftliche Laufbahn zu befördern. Von den ursprünglich rund 700 Zuschriften sind knapp 600 erhalten und in einer digitalen Kollektion bei der amerikanischen Stanford University zugänglich.

Foto © Martin Rottenkolber

Es könnte allerdings sein, dass uns die Ergebnisse in der Gegenwart mehr interessieren denn je. Denn selbst wenn Geschichte sich nicht wiederholte – eine steile These – wäre es ja möglich, dass die Mechanismen Parallelen zur Gegenwart aufwiesen. Das Theaterkollektiv Futur3 hat sich dieses Themas angenommen.

Die Theatermacher haben einzelne Texte oder auch Aussagen aus den vorliegenden Dokumenten nicht nach wissenschaftlichen, sondern nach künstlerischen Kriterien ausgewählt. Das bedeutete unter anderem, dass extreme Äußerungen genauso wenig Berücksichtigung fanden wie offensichtlich soziologisch zu angepasste Antworten. Stattdessen wurde mehr Gewicht auf die Äußerungen weiblicher Parteianhänger gelegt. So schälten Sandra Nuy und Charlotte Luise Fechner nach und nach Texte aus den Dokumenten, die ihnen geeignet schienen, ein Gesellschaftsbild der Zeit vor 1933 zu zeichnen. Als Spielstätte wählte Futur3 einen ganz besonderen Ort aus.

Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln am Appellhofplatz ist nach eigenen Angaben die „größte lokale Gedenkstätte in der Bundesrepublik“. So spannend die bauliche Entwicklung des Hauses ist, so schrecklich war seine Nutzung in der Zeit von 1935 bis 1945. Hier nämlich war die Kölner Dependance der Geheimen Staatspolizei, kurz Gestapo. Dank ihrer Widmung als Museum und Gedenkstätte kann man heute noch den hauseigenen Zellentrakt und den Innenhof besichtigen, auf dem die Hinrichtungen stattfanden.

Regisseur André Erlen hat sich entschieden, in den Gewölben des Hauses einen Parcours mit verschiedenen Stationen einzurichten und dort Besucher im Zehn-Minuten-Takt einzeln durchzuschleusen. Damit verbunden ist ein hoher logistischer und technischer Aufwand. Für den Besucher bedeutet es mehr. Nicht wissend, was auf ihn zukommt, muss er den Parcours mit Maske durchlaufen und wird permanent einer Face-en-face-Situation mit einem Darsteller ausgesetzt. Was von einigen Veranstaltern als Zugewinn an Intensität gepriesen wird, wird längst nicht von allen Besuchern goutiert. Auch die Geräuschkulisse ist nicht geeignet, für Entspannung zu sorgen. Doch der Reihe nach.

Foto © Martin Rottenkolber

Futur3 hat einen Rundlauf durch das Haus eingerichtet, der sich in drei Teile gliedert. Es gibt die „Wissenschaftler“ wie Samira Clausius oder Erlen selbst, die die Fakten unter Zuhilfenahme von Tafeln vermitteln. Es gibt Lautsprecher-Stationen, an denen Sprecher Texte verlesen und Projektionen das geschilderte Geschehen untermalen. Und dann sind da die Darsteller, die mit größter Intensität spielerisch Eindrücke vermitteln. Ein Chor, der ausschließlich akustisch in Erscheinung tritt, stellt die Reproduktion der Texte in Frage, weil sie schließlich ein Lebensgefühl oder eine Philosophie von „brauner Soße“ befördern können. Mariana Sadovska und Jörg Ritzenhoff haben dazu eine untergründige Geräuschkulisse entwickelt, die manches Mal eher an einen Folterkeller erinnert. Die ständige Überschneidung von Tönen und Geräuschen sorgt für zusätzliche Unruhe. Derweil legen die Darsteller Zeitzeugnis als Stellvertreter ab. Da gibt es die Orthodoxen, Amazonen, Antisemiten, Kämpfer, Schläger und so weiter. Stefan H. Kraft erzählt von seinen Eltern, die in bester Überzeugung ihres Glaubens lebten und ihm Vorbild waren. Luzia Schelling freut sich diebisch über ihre parteipolitischen Aktivitäten, die von der Gesellschaft zu der Zeit noch gar nicht gewollt waren, Anja Jazeschann lässt sich auf Schwärmereien für den „Führer“ ein. Frank Casali spielt sowohl den Arbeiter, der – noch – in der SPD ist und auf das allmähliche Verstummen der Wortführer hinweist: Die Lauten und Dreisten übernehmen die Rede. Aber er zeigt sich auch als Gutshofbesitzer, der für seine Sache den Schlägertrupps der SA beitritt. Regina Weiz stellt den Weltkriegsveteranen dar, der sich in der Weimarer Republik unverstanden und nicht aufgehoben fühlt und deshalb den paramilitärischen Strukturen der NSDAP hinterherläuft. Allen Darstellern ist gemein, dass sie sehr textsicher arbeiten und der Face-to-Face-Situation weitgehend aus dem Weg gehen. Das ist gut so. Auch hier hat Erlen hervorragende Arbeit geleistet.

Letztlich muss jeder Besucher seine eigenen Erkenntnisse aus dieser Aufführung gewinnen. Allen gemein wird aber sein, dass sie überlegen, welche Parallelen es zur derzeitigen politischen Situation in Deutschland gibt. Schaut man auf die einzelnen Äußerungen, führt das vermutlich kaum weiter. Ein überhöhter Glaube, eine überholte Weltansicht, verbunden mit Pathos und Nationalgefühl, das sich aus dem Kaiserreich herübergerettet hat, die pure existenzielle Bedrohung und die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges haben heute ebenso wenig Gültigkeit wie der Antisemitismus oder die Rassen-Ideologie, die viele Menschen vor dem Zweiten Weltkrieg in den Bann zog, weil sie ihnen eine Hoffnung versprach, die nicht eingelöst werden konnte. Blickt man allerdings auf die Mechanismen, kann man nachdenklich werden. Seit Beginn der „Agenda 2010“ unter Bundeskanzler Gerhard Schröder wird die gesellschaftliche Solidarität Schritt für Schritt aufgelöst. Immer mehr Menschen werden vom Wohlstand abgekoppelt, während einzelne immer reicher werden. Der Egoismus, der in den 1930-er Jahren notwendig schien, um das Überleben zu sichern, wird heute als Errungenschaft gepriesen. Auch heute ist eine seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr dagewesene Erosion der politischen Systeme zu beobachten. Vom Wahnwitz einzelner Gruppen, die Sprache für ihre Zwecke ideologisieren wollen, ganz zu schweigen. Möglicherweise ist eine erneute Befragung rechter Gruppierungen längst überfällig, aber wer will sich heute schon von einem Amerikaner darüber befragen lassen, warum er rechts wählt?

Politisches Theater gefällt längst nicht jedem, vor allem, weil es da erfahrungsgemäß wenig zu lachen gibt. Man womöglich sogar noch denken muss. Und bei der neuen Inszenierung von Futur3 bleibt einem gar mitunter das Lachen im Halse stecken. Die persönliche Belastung für den Besucher ist enorm. Aber wer im Hof ankommt, fühlt sich wie reingewaschen. Großartig. Um bei den verbleibenden neun Aufführungen noch Karten zu bekommen, muss man sich beeilen. Schließlich sind an einem Abend nur zwölf Durchläufe möglich. Also nichts wie hin.

Michael S. Zerban