O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Faszination des Hörspiels

16 UHR 50 AB PADDINGTON
(Jörg Kernbach)

Besuch am
26. Juli 2023
(Premiere am 10. Oktober 2017)

 

Wildwechsel, Köln

Wir unterbrechen unser Programm für eine aktuelle Durchsage vom Mount-Jennings-Observatorium in Chicago“, mit dieser Durchsage wurde am 30. Oktober 1938 eine Konzertübertragung im Radio unterbrochen. Es begann das Hörspiel Der Krieg der Welten von Orson Welles. In einer fiktiven Reportage berichteten die Reporter von einem Angriff der Marsianer. Weil viele Hörer die Vorwarnungen nicht mitbekommen hatten, setzte Panik ein. Menschen flüchteten in Luftschutzkeller oder Kirchen, packten ihre Familien in die Autos und begaben sich auf die Flucht. Binnen kürzester Zeit waren die Straßen in New Jersey und New York verstopft, die Telefonleitungen zur Polizei lahmgelegt. Noch 1977, als die deutsche Bearbeitung des Hörspiels vom Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlt wurde, gab es besorgte Anrufe bei der Redaktion. Nun, man darf wohl getrost davon ausgehen, dass solche Reaktionen heutzutage ausblieben. Von seiner Faszination hat das Hörspiel trotz der marginalisierten Bedeutung des Hörfunks bis heute nichts verloren. Seit geraumer Zeit haben die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten das Hörspiel „wiederentdeckt“, eine der wenigen guten Entscheidungen, die man den Sendeanstalten zuschreiben kann. Zwar halten sich die hochwertigen Neuproduktionen in Grenzen, aber Hörer können inzwischen wieder auf viele Hörspiele zugreifen – und machen reichlich Gebrauch davon.

Gabriele Schulze – Foto © O-Ton

Auch Jörg Kernbach vermag sich der Faszination des „Kopfkinos“ nicht zu entziehen. Im Restaurant Wildwechsel im Kölner Stadtteil Dünnwald installierte er das Live-Hörspiel. Die Idee so einfach wie genial. Schauspieler lesen von ihm adaptierte Texte, die mit allerlei Geräuschen, ein wenig Musik und allerlei angedeuteten Verkleidungen ausgeschmückt werden. Spaß und Humor sind dabei ausdrücklich erlaubt. Der Einfall war gut, das Publikum zeigt sich seit Jahren begeistert von diesen Veranstaltungen. Wie zum Beispiel am 10. Oktober 2017, als das Stück 16 Uhr 50 ab Paddington nach dem gleichnamigen Film auf der Grundlage des Romans Murder she said von Agatha Christie erstmals aufgeführt wurde. Und bis heute hat die Begeisterung nicht nachgelassen. Das Restaurant ist auch an diesem Abend bis auf den letzten Platz gefüllt. Gewiss, der Eintritt ist frei – am Ende werden Spenden gesammelt – aber es gibt kaum einen Gast, der die Aufführung nicht auch mit einem Abendessen verbindet. Eine wunderbare Win-win-Situation. Für das nötige Reglement haben die Gäste inzwischen längst selbst gesorgt, indem sie so früh eintreffen und alle Plätze besetzen, dass das Essen bis zum Beginn der Aufführung verspeist ist und die nötige Ruhe einkehren kann. Zu diesem Zeitpunkt ist der lange Tisch mit Mikrofonen und Accessoires längst an der Längsseite des Speisesaals aufgebaut. Wieder einmal in diesem Jahr erlaubt das „Sommerwetter“ keine Open-Air-Veranstaltung, als die das Live-Hörspiel eigentlich angelegt ist. Die Vorfreude der Besucher leidet darunter keineswegs.

1961 erschien der Film 16 Uhr 50 ab Paddington als einer von vier Miss-Marple-Filmen mit Margaret Rutherford in der Hauptrolle. Die grandiose Schauspielerin hört während einer Zugfahrt von einem Mord. Bei der Polizei glaubt man ihr nicht. Also begibt sich Miss Marple in bewährter Weise auf Spurensuche, unterstützt vom Bibliotheksleiter und treu ergebenen Jim Stringer. Die führt sie auf das Anwesen der Familie Ackenthorpe, wo sie verdeckt als Hauswirtschafterin anheuert. Es gibt eine Menge skurriler Typen, Tote, einen etwas begriffsstutzigen Inspektor und am Ende die ungewöhnliche Auflösung. Kernbach versucht gar nicht erst, an das schwarzweiße „Original“ heranzureichen, sondern geht einen eigenen Weg.

Marcus Mies – Foto © O-Ton

Die Legende sagt, dass der Requisiteur und Geräuschemacher auf einer der Kölner Brücken mit seinem Lastkraftwagen steckengeblieben ist. Also müssen die Geräusche und eine Nebenrolle auf das Publikum verteilt werden. An das Pult stellen sich – selbstverständlich – Jörg Kernbach selbst als Erzähler und Mr Stringer sowie Dr. Quimper, Gabriele Schulze als Miss Marple, Marcus Mies als knorriges Oberhaupt der Ackenthorpes und Inspector Bacon sowie Nina Vorbrodt in der Hauptsache als Evelyn Ackenthorpe, Tochter des Landadeligen. Dass sie alle noch zahlreiche kleinere Rollen nebenbei übernehmen, versteht sich von selbst. Anders wäre das enorme Personalaufkommen kaum zu bewältigen. Es macht Spaß, den Lesern zuzuhören, die sich zumeist gekonnt um sehr eigene Akzente ihrer Figuren bemühen, aber das letzte Quäntchen fehlt, wenn ihrer aller Augen an den Blättern kleben und nur selten der Blickkontakt zum Publikum hergestellt wird. Aufgewogen wird das durch die mit seltsamsten Mitteln erzeugten Geräusche und einfallsreiche Requisiten. Da muss sich Vorbrodt übergroße Ohren und Zähne ankleben, um den Enkel Albert zu spielen, Mies glänzt mit schiefen Kopfbedeckungen, und wenn es zu den Nebenrollen geht, werden kurzerhand mal an Stäbe geklebte Bärte vor die Münder gehalten.

Schon bald gerät die Handlung zunehmend in den Hintergrund. Die Wechsel der Verkleidungen, der Einsatz des Publikums, um Zuggeräusche, Gewitter oder Turmglockengeläut zu imitieren, und vor allem jede Menge Pannen bei den Einsätzen sorgen bei den Besuchern für einen riesigen Spaß, der immer wieder großes Gelächter und Szenenapplaus bewirkt. Kernbach glänzt gewohnt mit größtmöglicher Souveränität, wenn er nicht nur seinen Text, sondern auch die Handlung und die Pannen in das Stück einbindet.

Und die Musik? Die ist heute Abend denkbar einfach gehalten. Schließlich hat Ron Goodwin ein unvergessliches Motiv für die Filme geschaffen, das Kernbach ganz am Anfang einmal vom Band laufen lässt und Vorbrodt in immer neuen Variationen am Szenenende auf der Blockflöte einspielt. Das geht häufiger im Wortsinn schief, aber das muss gewollt sein und zum Spaß gehören, finden die Gäste.

Nach einer Komödie hat sie dem Publikum am besten gefallen, wenn es sich den Bauch vor Lachen gehalten hat. Im Wildwechsel ist es anders. Auch hier gibt es viel Situationskomik, aber am Ende gehen die Menschen satt und beglückt nach Hause. Eins rauf mit Mappe, hat man früher gesagt. Hier stimmt es immer noch.

Gleich Anfang August gibt es Arsen und Spitzenhäubchen und Ende August Tod auf dem Nil für all die, die das besondere Erlebnis lieben.

Michael S. Zerban