O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Baus

Aktuelle Aufführungen

Wucht der Intimität

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
(Richard Wagner)

Besuch am
30. Januar 2018
(Premiere am 20. Januar 2018)

 

Theater Koblenz

Die Schlüsselszene in Wagners Der fliegende Holländer, eine der bewegendsten in seinem Musiktheater überhaupt, ereignet sich gegen Ende des zweiten Aufzugs. Wie aus der Ferne längst vergang’ner Zeiten, spricht dieses Mädchens Bild zu mir, hebt der Holländer, „tief ergriffen“, wie es in den Regieanweisungen des Komponisten heißt, zum Duett mit Senta an. Versank ich jetzt in wunderbaren Träumen?, setzt diese fragend ein. Was ich erblicke, ist’s ein Wahn? In der Koblenzer Inszenierung der Romantischen Oper, mit der sich der Hausherr Markus Dietze nach seinem Lohengrin 2012 zum zweiten Mal auf Wagner-Terrain begibt, offenbart sich in diesem Moment wie in einer Nussschale die Grundidee des ganzen Unterfangens. Während sich die Stimmen wenige Takte später in emotionalen Schüben opernhaft-klassisch wie bei Bellini oder Donizetti ineinander vereinen, wollen die Akteure keine Nähe. Hier stehen zwei Egozentriker auf der Bühne, weit voneinander entfernt, jeder in seiner Welt verfangen. Zwei Menschen, die sich nicht wirklich im anderen begegnen, nicht einmal ihm zuhören wollen. Jeder seinem spezifischen Wahn verfallen, den sie der Öffentlichkeit geradezu missionarisch vermitteln wollen. Weil Dietze die mythische Sage mit gesellschaftskritischen Anleihen an die Gegenwart im psychiatrischen Milieu ansiedelt, lässt er sie auch gleich in einer Heilanstalt spielen. Konsequent, nun ja, aber schlüssig? Wohl kaum.

POINTS OF HONOR

Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

1985 deutet Harry Kupfer in Bayreuth die Geschichte vom rastlosen Holländer als schieres Produkt der überzogenen Phantasie Sentas – eine tendenziell krankhafte Projektion, die die permanente Präsenz von Dalands Tochter auf der Bühne bis zum Ende und ihren Absturz in den Tod zur Folge hat. Jetzt in Koblenz geht Dietze über diese durchaus diskutable Sicht noch einen großen, einen ideologischen Schritt hinaus. Wo Wahn waltet, ist für Reelles kein Platz mehr. Kein felsiges Ufer, wie es sich Wagner vorstellt, keine Wohnstube in des Schiffseigners Haus, keine Seebucht mit Hafen. Dafür, über dem vernagelten Orchestergraben installiert, der zentrale Begegnungs- und Aufenthaltsraum einer Irrenanstalt, in dem sich Patienten und ihre Wärter, schließlich der Steuermann als eine Art Supervisor im weißen Bademantel treffen. Mal zum Gemeinschaftskino, mal zur Medikamentenausgabe, dann zum Anstaltssport. Später treten kurioserweise wie selbstverständlich die Protagonisten der eigentlichen Erzählung hinzu, in heutiger Alltagskleidung. Die Kostüme hat Su Sigmund ausgewählt.

Für diese surreale Installation – das Bühnenbild verantwortet Bodo Demelius – hat die Rheinische Philharmonie ihren angestammten Platz geräumt und ist in den Bühnenhintergrund umgezogen. Das wird allerdings erst nach und nach erkennbar. Zum machtvollen Vorspiel mit dem schmetternden Holländer-Motiv im Blech und der wogenden Meeressinfonie in den Streichern dominieren zunächst die teils amüsanten, teils Furcht einflößenden Videoeinspielungen, die Georg Lendorff kreiert hat. In diesen Schwarz-Weiß-Bildern gibt es nur die Leere einer maritimen Landschaft, Verlorenheit, Stille. Ja, dem von Erlösungsvisionen getriebenen Holländer muss sehr früh dämmern, auch diesmal seiner „ewige Qual“ auf „des Weltmeers Fluten“ nicht entrinnen zu können. Und Senta? Sie kommt dem finalen Sturz in die Tiefe des Orchestergrabens in dem Maße näher, wie sie ihre Emanzipation durch Fiebervisionen betreibt. Egozentrik, die alles aufs Spiel setzt, auch das eigene Leben. Ein Regiekonzept, dem das Meiste spektakulär gerät, eher spekulativ agiert, keinesfalls schlüssig.

Konsequent in Dietzes Idee von den heillos Irrenden in einer hoffnungslosen Welt erscheint auch die weitere Grundentscheidung, auf die Holländer-Urfassung zurückzugreifen. Wagner bringt in wenigen von Armseligkeit geprägten Monaten in Paris 1841 sein Werk in der letztlich vergeblichen Hoffnung zu Ende, an einem der Theater der Metropole mit der Oper jener Jahre seinen künstlerischen Durchbruch erleben zu dürfen. In dieser „Frühfassung“ ereignet sich das Geschehen an der schottischen Küste. Sentas Vater ist der Schotte Donald. Schottisch ist ebenfalls ihr Verlobter Georg(e). In der späteren Überarbeitung für die Dresdner Uraufführung 1843 verlegt Wagner die Handlung nach Norwegen. Aus Donald wird Daland, aus Georg Erik. Wesentlicher sind die musikalischen Unterschiede. Schon mit der Ouvertüre wird hörbar: Der Sound der Urfassung ist robuster, kantiger, härter. Das Finale im Stil des für alle kommenden Wagner-Werke typischen langen Orchesternachspiels, erst 1860 von ihm als Erlösungsschluss hinzugefügt, gibt es hier noch nicht. Fast lakonisch besiegelt die vorzüglich auf die Frühfassung eingestellte Rheinische Philharmonie unter der musikalischen Leitung Mino Maranis das Ende des Spektakels.

Was die Sängerdarsteller anbetrifft, steht die Aufführung nicht unter dem günstigsten Stern. Gleich drei der Sänger in Hauptpartien werden erkältungsbedingt als indisponiert angekündigt. Anne Catherine Wagner scheint es am ärgsten getroffen zu haben. Sie spielt die Mary lediglich. Die kurzfristig herbeimobilisierte Bonner Mezzosopranistin Anjara I. Bartz singt ihren Part. Seitlich am Bühnenrand postiert, den Blick auf ein dort aufgestelltes Notenpult gerichtet, gestaltet sie ihren Part souverän. Dem ebenfalls betroffenen Ray M. Wade jr. gelingt es mit seiner wohltemperierten Tenorstimme, der Figur des unglücklichen Schwiegersohns Georg Empathie und Würde zu vermitteln. Rätsel gibt an diesem Abend der Wagner-erprobte Nico Wouterse als Holländer auf, der bereits die Premiere abgesagt hatte. Auch er als indisponiert avisiert. Ob der schartige Ausdruck seiner Stimme und der Mangel an Melos ausschließlich diesem Malheur zuzuschreiben sind, bleibt unerfindlich. So müht sich einer  durch die Partie, der niemals das Schicksal mit Aussicht auf Erfolg herauszufordern versteht. Jongmin Lim ist in der ambivalenten Rolle des geldgierigen und bisweilen um seine Tochter besorgten Donald eine durchaus passable Besetzung. Unerklärlich bleibt hingegen, warum er seine Stimme ständig auf eine unnatürliche Tonstärke hin forciert.

Bravourös geht Susanne Serfling die Senta von der ersten Note an, behauptet sie mit hoher und gleichbleibender Intensität. Sie lässt keinerlei Zweifel an ihrem Können im Fach Dramatischer Sopran aufkommen, ist in jeder Sekunde dieses traumatischen Furioso stimmlich und darstellerisch präsent. Eine große Leistung. Ein weiterer Lichtblick der Produktion ist Junho Lee als Steuermann, und das gleich in doppelter Weise. Den jungen verliebten Träumer konturiert er mit seinem silbrig helltönenden, glasklaren Tenor. Überdies reichert er seine Rolle noch durch gelegentliche akrobatische Einsprengsel an. Nicht zuletzt zeigt sich der Opern- und Extrachor in der Einstudierung von Ulrich Zippelius von seiner besten Seite. Wie sich beispielsweise die Damen des Ensembles in ihre Rollen als Patientinnen hineinspielen, verdient jedes Kompliment.

Am Ende dieser Wagner-Passion wirkt ein Teil des begeistert reagierenden Publikums wie erschlagen. Das Robuste der Frühfassung und die räumliche Intimität des Koblenzer Hauses gehen eine ungewöhnliche Allianz ein, die die Wucht der Aufführung um etliche Grade steigert. Der Wagner zu Paris 1841 hätte gewiss positiv reagiert, der des Jahres 1860 vermutlich verhaltener.

Ralf Siepmann