O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bundeswehr/Müller

Aktuelle Aufführungen

Gipfelstürmer

ALPENSINFONIE & FILMMELODIEN
(Diverse Komponisten)

Besuch am
4. November 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Rhein-Mosel-Halle, Koblenz

Es hört sich erstmal wie ein ganz gewöhnliches Konzert an. Das World Doctors Orchestra (WDO), also das „Welt-Ärzte-Orchester“ und das Heeresmusikkorps Koblenz (HMK) geben gemeinsam ein Benefizkonzert. Im ersten Teil Klassik, im zweiten Teil Marschmusik, das könnte man meinen, wenn man die Orchester nicht näher kennt. Doch weit gefehlt. Dieses Konzert ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich; sowohl, was das Programm anbelangt, als auch die Zusammensetzung. Doch der Reihe nach.

Das World Doctors Orchestra wurde 2008 gegründet. Sein Credo: „musikalischen Höchstgenuss mit globaler medizinischer Verantwortung zu verbinden“, in diesen Pandemie-Zeiten eine ganz besondere Herausforderung. Mit seinen weltweiten Konzerten unterstützt das WDO medizinische Hilfsprojekte und ruft die Öffentlichkeit zu mehr Hilfsbereitschaft und Engagement auf, um die gesundheitliche Versorgung in Entwicklungsländern zu verbessern. Über 1.600 Musiker aus aller Welt sind Teil des WDO. Alle Mitglieder sind in ihrem ärztlichen Beruf tätig und daneben begeisterte und aktive Musiker. Viele von ihnen haben eine professionelle musikalische Ausbildung. Unter den Mitgliedern ist eine Vielfalt von medizinischen Fachrichtungen vertreten, Internisten, Allgemeinmediziner und Kinderärzte stellen die größten Gruppen dar. Daneben gibt es eine Vielzahl von Spezialisierungen im diagnostischen und therapeutischen Bereich sowie in der Pharmakologie. An jedem Konzertprojekt nehmen rund 100 Mitglieder teil, abhängig von der Besetzung, die für das jeweilige Konzertprogramm benötigt wird. Geleitet wird das WDO durch seinen Gründer und Dirigenten Stefan Willich. Willich studierte Geige, Kammermusik und Dirigieren in Stuttgart und Berlin. Sein beruflicher Werdegang führte ihn jedoch zunächst in die Medizin, wo er zu einem angesehenen Kardiologen und Forscher mit den Schwerpunkten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Prävention, Gesundheitsökonomie, integrative Medizin sowie Musik und Medizin wurde.

Er arbeitete mehrere Jahre an der Harvard Medical School in Boston und wurde dann zum Professor und Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité Universitätsmedizin Berlin ernannt. Von 2012 bis 2014 war Stefan Willich Präsident der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin.

Das zweite Orchester dieses Abends ist das Heeresmusikkorps Koblenz. 1956 in Idar-Oberstein aufgestellt und seit 1957 in Koblenz stationiert, ist es damit eines der traditionsreichsten Musikkorps der Bundeswehr. Dirigiert wird das Orchester von Oberstleutnant Alexandra Schütz-Knospe. Sie ist die erste Frau, die ein Musikkorps der Bundeswehr leitet. Mit seinem fünfzigköpfigen sinfonischen Blasorchester und den zahlreichen kleineren Besetzungen ist das Heeresmusikkorps Koblenz der musikalische Botschafter der Bundeswehr in Rheinland-Pfalz, dem Saarland und auch weit darüber hinaus. Bei den traditionellen militärischen Zeremoniellen wie Feierlichen Gelöbnissen, Kommandoübergaben, Appellen und dem Protokollarischen Ehrendienst sorgt das Musikkorps für den feierlichen Rahmen, stärkt den Zusammenhalt der Truppe und unterstützt hiermit die Repräsentanz und Integration der Bundeswehr in der Bevölkerung. Alle Militärmusiker der Bundeswehr haben an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf ihr Instrument studiert, in der Regel sogar ein zweites Instrument.

Foto © Bundeswehr/Müller

Schütz-Knospe begann ihre musikalische Ausbildung im Alter von vier Jahren auf dem Klavier. Ab dem zwölften Lebensjahr erhielt Schütz-Knospe ihre Klavierausbildung an den Hochschulen für Musik Franz Liszt in Weimar und Hanns Eisler in Berlin. 1991 begann sie dann auch ihr Studium in Berlin und schloss es 1998 als Diplompianistin und Diplompädagogin im Fach Klavier ab. 1998 trat Schütz-Knospe in die Bundeswehr ein und begann das Studium zum Kapellmeister an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf. Nach ihrem Diplom-Abschluss hatte sie verschiedene Verwendungen als Musik-Offizier und Dirigentin, und seit Juni 2014 leitet sie das Heeresmusikkorps Koblenz.

Dieses Konzert ist allerdings eine ganz besondere Premiere, denn die beiden Orchester spielen nicht getrennt für sich, sondern bilden ein insgesamt 116 Musiker umfassendes Sinfonieorchester. Während die Streichergruppen und die Harfen ausschließlich vom WDO kommen, sind die Bläser und Schlagzeuger gemischt, hier zum größten Teil aus dem HMK. Die Musiker des Heeresmusikkorps Koblenz spielen in Uniform. Lediglich drei ganze Tage zur Probe blieben den Musikern und Dirigenten, um aus den beiden unterschiedlichen Orchestern ein großes symbiotisches Sinfonieorchester zu formen. Die Premiere des Konzertes war am 3. November 2021 in der Alten Oper Frankfurt, einen Tag später quasi das Heimspiel in Koblenz. Doch wie kam es überhaupt zu dieser Symbiose? Das ist Richard Feyrer zu verdanken.

Der Oberstarzt ist nicht nur Direktor der Klinik für Herzchirurgie am Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, sondern seit über elf Jahren auch als leidenschaftlicher Trompeter für das WDO im Einsatz. Warum also nicht beide Professionen verbinden, dachte sich Feyrer und brachte das HMK und das WDO zu einer erstmaligen Kooperation zusammen. Natürlich spielt Feyrer sein Instrument an diesem Abend im WDO, lässt es sich aber nicht nehmen, die etwa 900 Zuschauer in der Koblenzer Rhein-Mosel-Halle persönlich zu begrüßen und charmant in das Konzert einzuführen. Dass es bei diesem Konzert ein strenges Hygienekonzept gibt, versteht sich von selbst.

Im ersten Teil des Konzertes steht ein ganz besonderes Werk auf dem Programm, das zur Aufführung auch ein derart großes Sinfonieorchester benötigt, Eine Alpensinfonie op. 64. Das Werk ist eine sinfonische Dichtung des Komponisten Richard Strauss, die im Jahre 1915 uraufgeführt wurde. Strauss gestaltet in dieser Sinfonie die Besteigung eines Alpengipfels und die Rückkehr ins Tal während eines Tages mit musikalischen Mitteln. Die Alpensinfonie ist damit ein typisches Beispiel für die Form der Programmmusik, wie sie auch Beethoven im zweiten Satz seiner Sechsten Sinfonie, der Pastorale, oder Bedřich Smetana in seiner berühmten Moldau, dem zweiten Teil des Zyklus Má vlast verwendet haben. Die Idee zu der Alpensinfonie geht auf ein Erlebnis aus Strauss’ Kinderzeit zurück. Er hatte sich im Sommer 1879 auf dem Heimgarten in den Bayerischen Voralpen verstiegen und war in ein Gewitter gekommen. Dieses Ereignis stellte er tags darauf am Klavier dar. Aus dieser Erinnerung entwickelte er das Konzept. Die der sinfonischen Dichtung zugrunde liegende Bergbesteigung samt nachfolgendem Abstieg beginnt mit dem einleitenden Abschnitt Nacht, durchschreitet folgende Stationen und endet wiederum in einem als Nacht bezeichneten Abschnitt:

Nacht – Sonnenaufgang – Der Anstieg – Eintritt in den Wald – Wanderung neben dem Bache – Am Wasserfall – Erscheinung – Auf blumigen Wiesen – Auf der Alm – Durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen – Auf dem Gletscher – Gefahrvolle Augenblicke – Auf dem Gipfel – Vision – Nebel steigen auf – Die Sonne verdüstert sich allmählich – Elegie – Stille vor dem Sturm – Gewitter und Sturm, Abstieg – Sonnenuntergang – Ausklang – Nacht.

Foto © Bundeswehr/Müller

Es ist aber vermutlich nur zum Teil die Absicht des Komponisten gewesen, eine Bergwanderung zu beschreiben. Der von Strauss beschriebene Wanderweg, der von der Nacht auf den Gipfel und wieder zurückführt, lässt sich gleichsam als sinfonische Darstellung eines menschlichen Lebens betrachten. Hinsichtlich dessen ist der Komponist wahrscheinlich von der Philosophie Friedrich Nietzsches angeregt worden, denn Skizzen zur Alpensinfonie tragen den Titel der Nietzsche-Schrift Der Antichrist. Somit steht Eine Alpensinfonie in direktem Zusammenhang mit Strauss’ Tondichtung Also sprach Zarathustra, die ebenfalls von Nietzsche beeinflusst ist. Vom frühen Tod Gustav Mahlers erschüttert, notierte Richard Strauss am 18. Mai 1911: „Ich will meine Alpensinfonie den Antichrist nennen, als da ist: sittliche Reinigung aus eigener Kraft, Befreiung durch die Arbeit, Anbetung der ewigen, herrlichen Natur.“ Entstanden ist ein großes und mächtiges symphonisches Werk, dessen betörende Musik dem Hörer seine eigene Vorstellung über eine Gipfelbesteigung in den Bergen und einen Tag in der herrlichen Natur ermöglicht.

Stefan Willich leitet das WDO- und HMK-Sinfonieorchester im ersten Teil und führt die Musiker mit klarem Gestus und großer persönlicher Ausstrahlung durch die anspruchsvolle Partitur. Willich ist exzellent vorbereitet, dirigiert das Werk auswendig und verliert zu keinem Zeitpunkt den Faden. Großartig dabei die Gestaltung des geheimnisvollen Beginns der Alpensinfonie mit den tiefen Bässen in den verschiedenen Streichergruppen, aus dem der Klang der Blechbläser kongenial vorbereitet wird. Das hat stilistisch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Beginn des Rheingoldes von Richard Wagner. Aus dem noch tiefen Dunkel der Nacht erheben sich, in den Posaunen und Streichern zuerst, mehr erahnt als hörbar die Umrisse des Bergmassivs, das bei einbrechendem Sonnenaufgang von den Strahlen festlicher Fanfaren erleuchtet wird. Satt und sonor geben die Celli das Tempo an, das von Willich breit, aber nicht schleppend vorgegeben wird. Beim Eintritt in den Wald erklingen die Flöten mit Vogelgezwitscher und eine Hörnergruppe mit Jagdmotiven. Als der Gipfel erreicht wird, erklingt als erstes eine herrlich stille, introvertierte Oboen-Melodie, die die Demut des Menschen im Angesicht eines großen Bergmassivs zum Ausdruck zu bringen scheint. Dass eine Gipfelbesteigung am Ziel auch ein großes Glücksgefühl sein kann, demonstrieren das WDO- und HMK-Sinfonieorchester und Willich in gewaltigen Fortissimo-Klängen: atemberaubend und grandios wie bei einem echten Bergerlebnis.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie Willich die Klangfarben der unterschiedlichen Instrumentengruppen zu mischen weiß und deren Transparenz bis in die dynamische Steigerung zum Sonnenaufgang zu gewährleisten vermag. Die hält sich bis hin zur Vision und der aufsteigenden Gipfelpassage. Wie exzellent das WDO- und HMK-Sinfonieorchester gemeinsam zu musizieren vermag, wird auch bei den Passagen Gewitter und dem Abstieg deutlich hörbar. Gerade die stark geforderten Bläser behalten hier stets einen sauberen und fließenden Klang, der sich harmonisch mit den Streichern verbindet. Der Sonnenuntergang ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Willich es versteht, das klangliche Mit- und Ineinander aller Instrumentengruppen der beiden Orchester zu einem Gesamtklang zu formen, der alle Klangregister erleuchten lässt und gleichzeitig demonstriert, mit welcher Souveränität die Instrumentalisten musizieren. Willich leitet die vielen Übergänge mit leichtem, aber auch energischem Schlag. Am Schluss, zum Einbruch der Nacht, als der Abstieg vom Gipfel geschafft ist, schließt sich musikalisch der Zyklus, und klanglich ist es wieder wie am Anfang, bevor ein neuer Tag in den Bergen beginnt. Als Willich nach dem letzten Takt den Dirigentenstab langsam sinken lässt, gibt es einen kurzen Moment der Stille und des Innehaltens, bevor großer Applaus des Publikums für die überzeugende Darbietung aufbrandet.

Das World Doctors Orchestra hat gezeigt, dass es auf einem sehr hohen Level musiziert, und die Musiker des Heeresmusikkorps Koblenz haben sich homogen in dieses Sinfonieorchester integriert und dabei auch die ganze Bandbreite ihres Könnens gezeigt, denn Eine Alpensinfonie gehört nicht zum Standardrepertoire eines Musikkorps der Bundeswehr.

Nach der Pause übernimmt dann Alexandra Schütz-Knospe das Dirigentenpult und eröffnet den zweiten Teil des Konzertes schwungvoll mit dem Florentiner Marsch von Julius Fučik. Der eingängige, fast schon operettenhafte Marsch für Blasorchester, wurde von Robert Kuckertz für großes Sinfonieorchester arrangiert. Kuckertz ist der Vorgänger von Schütz-Knospe als Dirigent des HMK und hat auch die weiteren Arrangements des zweiten Konzertteils geschrieben. Nach diesem dynamischen Auftakt führt Schütz-Knospe mit Entertainer-Qualitäten durch das weitere Programm. Sie vergisst aber auch nicht zu erwähnen, dass alle Militärmusiker in Zweitfunktion ausgebildete Sanitätssoldaten sind und während der Corona-Pandemie, als sie nicht spielen durften, in Gesundheitsämtern, in Impfzentren und bei der Kontaktnachverfolgung eingesetzt waren und so auch einen nicht unwesentlichen gesellschaftlichen Beitrag geleistet haben.

A Tribute to John Williams lautet ein Medley mit Melodien aus Filmklassikern wie Star Wars, Jurassic Park, Hook, Jaws und E.T. Eröffnet wird das rund zwölfminütige Medley mit der Olympic Fanfare, die Williams zur Eröffnung der Olympischen Sommerspiele 1984 in Los Angeles komponiert hatte. Schütz-Knospe, nach eigenen Aussagen bekennender Fan dieser Filme und natürlich der Filmmusiken von John Williams, leitet ihr HMK und das WDO mit viel Elan und großen Bögen und nimmt die Zuschauer im Saal mit auf eine kleine Filmreise nach Hollywood. Nach diesem Medley wird es emotional, denn mit Hallelujah steht ein besonders ausdrucksstarkes Lied des vor fünf Jahren verstorbenen kanadischen Singer-Songwriters Leonard Cohen auf dem Programm. Es wurde 1984 auf dem Album Various Positions veröffentlicht, und es gibt sehr viele Cover-Versionen dieses Songs. An diesem Abend aber gibt es ein Arrangement von Robert Kuckertz für großes Sinfonieorchester, wobei Christopher Buchheim am Sopran-Saxofon die Solo-Gesangsstimme imitiert, dabei virtuos mit Jazz- und Blueselementen improvisiert und die Darbietung zu einem besonderen Erlebnis werden lässt, das beim Publikum natürlich großen Applaus hervorruft. Das Finale des Konzertes ist wieder ein Medley, diesmal geht Schütz-Knospe dreißig Jahre zurück in das Jahr 1991, und lässt die Zeit mit Songs wie Wind of Change von den Scorpions, The Shoop Shoop Song von Cher, I do it for you von Bryan Adams und Rhythm of My Heart von Rod Stewart wieder lebendig werden. Auch dieses Arrangement für großes Sinfonieorchester stammt aus der Feder von Kuckertz. Nach dem beglückenden Finale dürfen die Zugaben nicht fehlen. Als erstes steht der berühmte Radetzky-Marsch von Johann Strauss Vater auf dem Programm. Schütz-Knospe führt nicht nur das WDO- und HMK-Sinfonieorchester mit energischem Schlag, sondern leitet auch das Publikum mit strengem Blick und einem Lächeln auf den Lippen an, wann es zum Takt klatschen darf und wann nicht, ein herrlicher vorgezogener Neujahrs-Gruß. Das Publikum, das sich voller Begeisterung für diese außergewöhnliche Darbietung von den Plätzen erhoben hat, lässt die Musiker ohne eine zweite Zugabe nicht gehen, und so wird Rhythm of My Heart noch einmal wiederholt.

Das Konzert beendet Schütz-Knospe am Schluss mit einer kraftvollen Drehung auf dem Dirigentenpult unter dem Jubel des Publikums. Das einzigartige Kooperationskonzert des World Doctors Orchester und des Heeresmusikkorps Koblenz unter der Leitung von Stefan Willich und Alexandra Schütz-Knospe hat gezeigt, auf welch hohem Niveau beide Orchester spielen und welch unterschiedlichen Facetten sie zeigen können. Und dabei sollte jedem, der es noch nicht wusste, klar geworden sein, ein Musikkorps der Bundeswehr kann deutlich mehr als „nur“ Marschmusik spielen. Bleibt zu hoffen, dass die Kooperation nicht ein einmaliges Ereignis ist und es in Zukunft weitere Projekte dieser Art geben wird.

Andreas H. Hölscher