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MARIENVESPER
(Alessandro Melani)

Besuch am
18. September 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Basilika Knechtsteden

Das Festival Alte Musik Knechtsteden hat sich seit seiner Gründung im Jahr 1992 den Ruf erworben, ein Wallfahrts- und Erfüllungsort für die Musik des Barock und der Frühklassik zu sein. Zu verdanken ist dieser Ruf vorrangig dem Musikwissenschaftler und Dirigenten Hermann Max sowie den beiden von ihm gegründeten Ensembles, der Rheinischen Kantorei und dem Orchester Das kleine Konzert. Seiner Festivalintention, „Experimentierfeld und Impulsgeber mit seinen verschiedenen Formaten“ zu sein, versucht Max in der noch bis zum 25. September reichenden Konzertserie unter dem Motto 30 Jahre Vielfalt! durch ein besonders wechselvolles Programm gerecht zu werden. Das zweite Konzert nach dem Eröffnungsabend mit einem Beethoven- und Ries-Programm, die Aufführung der Marienvesper von Alessandro Melani in der stilvoll ausgeleuchteten romanischen Klosterbasilika Knechtsteden löst diese Ambition mit Sicherheit ein.

Marienvespern als eine besonders beliebte, vielfach vertonte Variante der über den Tag und die Nacht verteilten Stundengebete sind seit dem 17. Jahrhundert ein Begriff. Die wohl berühmteste aus dem Jahr 1610 stammt von Monteverdi. Der Name des 1639 in der norditalienischen Provinzstadt Pistoia geborenen und 1703 in Rom gestorbenen Melani ist es mitnichten. So führen weder der Musik-Brockhaus von 1982 noch die von Kurt Honolka herausgegebene Weltgeschichte der Musik von 1985 Namen und Werk des Komponisten zahlreicher Opern und Oratorien. Dabei ist allein schon seine Biografie, speziell die Familiengeschichte, spektakulär.

Vater Domenico, ein einfacher Glöckner, setzt seine ganze Energie daran, seine sieben Söhne musikalisch ausbilden zu lassen, um ihnen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Vier der Söhne reüssieren als Kastraten. Atto Melani, der älteste, agiert als Sänger und Geheimagent, letzteres am Hof Frankreichs. Dank der Beziehungen Attos wird Alessandro nach Jahren als Kapellmeister an der vom Papst favorisierten Kirche Santa Maria Maggiore in gleicher Funktion zur französischen Nationalkirche San Luigi die Francesi in Rom berufen. Hier arbeitet er bis zu seinem Tode, auch an etlichen geistlichen Kompositionen. Folgt man Max, sind viele seiner in Handschriften erhaltenen Psalmen, Litaneien und Antiphone, Wechselgesänge in der Kirchenmusik, für die Konzertpraxis noch zu entdecken.

Hermann Max – Bildschirmfoto

Puristen zumal mit einem christlichen Grundverständnis für die Werke der Stilrichtung musica sacra mögen sich a priori für die besonderen Strukturelemente einer Vesper respektive Marienvesper interessieren. Anders als die vertonte Messe öffnet sie der musikalischen Ausgestaltung Tür und Tor. Standardelemente sind von Antiphonen umrahmte Psalmen, ein Hymnus und das Magnficat sowie eine Lesung, deren Inhalt sich nach dem jeweiligen Tag richtet. Für eher säkular orientierte Besucher legt die Aufführung in der Knechtstedener Basilika mit ihrer Klangerlebnisse fördernden Raumakustik eine vorrangig sinnliche Rezeption nahe. Man schließt für ganze Sequenzen die Augen und lässt die Imagination von Gemälden zu, die mehr oder weniger zeitgleich – Max nennt für das aufgeführte Werk kein konkretes Entstehungsdatum – entstanden sind. Zu denken ist etwa an Raffael, Caravaggio, Tizian oder Tintoretto.

Was die beiden von Max mit strenger Milde geführten Ensembles, die famose, zehn Sänger aufbietende Rheinische Kantorei und das der historischen Aufführungspraxis verpflichtete großartige Kleine Konzert, erschaffen, ist ein kunstvoll geflochtener genuiner Klangkosmos. Er beruht auf einer ganz eigenen Tonempfindung und Kompositionstechnik. Kontrast, Variation, Virtuosität sind dabei die Stilelemente, die der traditionell konstanten Textvorlage Vitalität und – ja, auch – Emotionalität einhauchen.

Erstaunlich abwechslungsreich die Interaktion, das Konzertieren von Vokalisten und Instrumentalisten. Mal bestreiten vier Sängerinnen wie im Introitus den vokalen Part. Mal sind es fünf wie im Psalm Laudate pueri. Acht Sänger sind es im Psalm Nisi Dominus. Letanie della Beata Virgine, der Schlussstein dieser musikalischen Architektur, vereint dann alle zehn. Herausragend aus dem Decagon der Solisten der Rheinischen Kantorei ist die Sopranistin Veronika Winter, die mit kräftiger Stimme und Vehemenz gleich im Introitus die Stimmführung für die Solistinnen übernimmt. Ferner Ekkehard Abele mit seiner sonoren, melodiösen Bassstimme. Beeindruckend auch die Sopranistinnen Pia Davila, Kerstin Dietl, Karin Gyllenhammar, die Altistin Julie Comparini, die Tenöre Hans-Jörg Mammel und Georg Poplutz, der Altist David Erler sowie der Bass Patrick Cellnik.

Im Kleinen Konzert wecken die Könner auf den verwandten alten Instrumenten Neugier und besonderes Interesse. So Christopher Sotney am Violone, einem Vorläufer des Cellos, Cordula Caso am Dulzian, einer Vorstufe des Fagotts, Anna Schall und Marleen Leicher, die die Blockflöte und den Zink, das im frühen 17. Jahrhundert populäre Cornetto, beherrschen. Die Laute ist bei Klaus Mader in besten Händen, die Violinen sind es bei Anne Röhrig und Ulla Bundies ebenso. Johannes Liedbergius am Cembalo und Bernward Lohr an der Orgel sorgen für den rhythmischen Rückhalt und die temperierende Grundierung.

Das nach Corona-Aspekten sorglich platzierte Publikum zollt allen Mitwirkenden für die 70 Minuten ohne Pause dauernde Aufführung anhaltenden Beifall. In der Melani-Rezeption, sollte es eine solche unter den Kernmarken der Alten Musik in den nächsten Jahren geben, wird die Knechtstedener Wiederentdeckung einen adäquaten Platz einnehmen. Sie ist im Übrigen auf YouTube zu erleben. Der Deutschlandfunk plant eine Ausstrahlung zu einem späteren Zeitpunkt.

Ralf Siepmann