O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Felix Grünschloß

Aktuelle Aufführungen

Teure Schatten

PRIME DONNE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
19. Februar 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Staatstheater Karlsruhe

Ein solches Konzert wäre vor 40 Jahren zwar möglich, aber unwahrscheinlich gewesen. Gewiss, auch in den 1980-er Jahren waren exzellente weibliche Stimmen in der Barockszene nichts Ungewöhnliches. Auch damals wäre ein Programm, das sich des Könnens erlesener Opernheroinen des 18. Jahrhunderts vergewissert, zu besetzen gewesen. Wie aber hätte ein Publikum in einer Ära der Dominanz von Männerstimmen und des rasanten Aufstiegs von Countertenören auf ein Angebot reagiert, das sich ausschließlich auf herausragende Sängerinnen mit tiefer Stimmlage konzentriert, für die Broschi, Caldara, Händel, Haydn und weitere Komponisten ihre erfolgreichsten Werke geschaffen haben?

Bei den 44. Internationalen Händel-Festspielen in Karlsruhe ist mit Prime Donne eine solche Ambition Wirklichkeit und ein Bühnenereignis geworden. Die italienische Mezzosopranistin Anna Bonitatibus hat ein Programm konzipiert, das die Interpretinnen von sogenannten Contralto-Rollen aus ihrem historischen Schatten rückt, der zu ihrer Zeit, auf den Gipfelhöhen ihrer Karrieren, wohl nicht wirklich bestand. „Frauen sangen in der Oper dieser Zeit alle Rollen“, notiert Stephan Steinmetz in einem klugen Beitrag für das Programmheft der Festspiele, „hohe wie tiefe Partien, weibliche und männliche Charaktere, empfindsame Figuren und sagenhafte Helden.“ Genderwechsel auf der Bühne seien im Übrigen nichts Ungewöhnliches gewesen, noch zu Rossinis und Donizettis Zeiten.

Vom Contralto-Level ist Bonitatibus, die an die 50 Opernrollen in ihrem Repertoire führt und mit einer beeindruckenden Bühnen- und Studiobilanz in Partien von Händel, Monteverdi, Mozart, Rossini und Verdi dekoriert ist, nicht weit entfernt. Das kommt ihrem dunkel timbrierten Mezzo mit technisch ausgefeilten musikalischen Linien und einer fulminanten Fähigkeit zu Koloraturen ideal entgegen. So steht sie dann auch zu Beginn des Programms selbstbewusst wie eine Leitfigur der Caldara- und Vivaldi-Epoche vor den etwa zwei Dutzend Musikern der Badischen Staatskapelle, für die der Barock-erfahrene Attilio Cremonesi, einst Assistent von René Jacobs, als Dirigent verpflichtet worden ist. Gewandet im schwarzen Wickelrock mit weißer Bluse und breitem Gürtel samt silberner Schnalle. Eine Erscheinung, die Carmen sein könnte. Brünnhilde. Oder Norma. Oder eine kecke Piratenbraut, wäre sie hierfür ein Stück jünger.

Quasi aus dem imaginären Schatten steigt mit der berühmten Totenklage Ombra cara aus Händels Radamisto Margherita Durastani auf, die mit dem Komponisten das Geburtsjahr 1685 teilt. Es ist zwar der Schatten der Vergänglichkeit. Jedoch nicht minder ein teurer, lieb gewordener, zu Herzen gehender. Der jugendliche Händel schreibt 1709 der Durastani die Titelpartie von Agrippina auf die Kehle. Wie Bonitatibus die hohe Virtuosität der Sängerin, die zu Beginn ihrer Laufbahn mit Venedig in Verbindung gebracht wird, aufleben lässt, ihr Messa di voce auf den langen Melodiestrecken, ihre Fähigkeit zum Schmerz erfüllten Innehalten, ist schlicht fulminant.

In den 1720-er Jahren gehört Faustina Bordoni zu Händels Royal Academy. Zeitgenossen ist sie als Ehefrau von Johann Adolph Hasse vertraut, dessen Siroe gerade in einer Neueinspielung wieder an Popularität gewinnt. Tatsächlich ist der Mezzo über Jahrzehnte der Fixstern am Himmel des Dresdner Hoftheaters, vornehmlich in Opern ihres Mannes. Das Gespann Bordoni und Hasse ist ein Musterbeispiel einer frühen Allianz von Künstler und Künstlerin, deren zum Himmel aufsteigende Qualität simples Genderdenken von heute gar nicht erst hat aufkommen lassen. Die Arie Povera navicella aus Antonio Caldaras Semiramide in Ascalona ist eine wild bewegte Geschichte von einem Schiffchen in der Nähe des rettenden Ufers, dem aber ein Sturm die sichere Reise verwehrt. Bonitatibus gibt den bedrohlichen Naturgewalten con affetto Gestalt und mit rasanten Koloraturen sogar eine spielerische Würde.

Anna Bonitatibus – Foto © Frank Bonitatibus

Acht ausgewählten Barockheroinen erweist die Entdeckerin der „teuren Schatten“ ihre Referenz. Vittoria Tesi, 1732 die Titelheldin in Riccardo Broschis Oper Merope neben dem Kastraten Farinelli in einem Turiner Theater, mit Rezitativ und Arie Voi tremende d’abisso … Barbaro traditor aus eben diesem Werk Broschis. Die selbst in den Archiven kaum auffindbare Maria Maddalena Pieri mit der Arie Gelido ogni vena aus Vivaldis Farnace. Barbara Ripamonti mit Rezitativ und Arie Misera, chi m’aiuta … Dove fuggo aus Haydns La vera costanza, wobei der Maestro auf Schloss Esterhazy die Rolle der Rosina auf die Altistin Ripamonti zuschneidet.

Ein wahres Juwel ist Bonitatibus‘ Interpretation des mit intensiver Körpersprache vorgetragenen A-capella-Rezitativs Questa è l’ora und der folgenden Arie Il mi oben quando verrà aus Giovanni Paisiellos Nina o sia la pazza per amore. Celeste Coltellini, die das Göttliche ihrer Berufung schon im Namen trägt, ist die Nina ihrer Zeit. Begeistert das Publikum in ihrer Heimat Neapel und angeblich Kaiser Joseph II. in Wien.

Rossini, der Komponist und Liebhaber, wird zumeist mit Maria Malibran und der Primadonna Isabella Colbran, die er 1822 heiratet, in Verbindung gebracht. Bonitatibus erweitert diese Allianzen um die Erinnerung an Marietta Marcolini, dem Star des Maestros für das Buffo-Fach, und Adelaide Melanotte, die dem Ritter Tancredi Statur und Format verleiht. Mit der Arie der Isabelle Cruda sorte aus L’italiana in Algeri und Rezitativ und Arie O Patria … Di tanti palpiti aus Tancredi wirft die Sängerin des Abends ihre ganze Rossini-Expertise und Belcanto-Virtuosität in die Waagschale.

Jetzt, nach zweimaligem Kostümwechsel, im schwarzen Hosenrock auf Linie des von Voltaire geschaffenen sizilianischen Ritters, ist sie absolut in ihrem Element. Die Tonsprünge kommen perfekt, die Koloraturen perlen comme il faut, und das eine oder andere begleitende Lächeln deutet die intime Verbindung einer Künstlerin mit ihrer Kunst an. Der Funke, der sich da befreit, befeuert auch die Badische Staatskapelle. Nach den ersten orchestralen Einsätzen mit Sinfonia von Händel und Haydn, von Cremonesi behutsam geleitet, dürfen die Musiker, um Könner des Schlagwerks erweitert, nun in die Vollen. Selbst ein selten zu sehender Schellenbaum gelangt zum Einsatz.

Cremonesi, mit Beginn der Spielzeit 2021/22 zum Künstlerischen Leiter des Orchesters der Händel-Festspiele Halle berufen, geht zum Schluss vor der Sängerin in die Knie. Er überreicht ihr eine rote Rose, gepflückt aus dem Strauß, mit dem sich das Staatstheater bedankt. Das Publikum reagiert begeistert auf diese Geste wie auf die formidable Sängerin und die bravourösen Orchestermusiker.

Die große Zahl der Männer in Parkett und Rang ist Teil der Beifallskulisse. So also kann eine musikalisch wie konzeptionell überzeugende Anstrengung berühren, die fern der simplen oder auch ausgrenzenden aktuellen Genderphänomene zeigt, wozu Frauen in der Musik, in der Oper, auf der Bühne fähig waren. Und sind.

Ralf Siepmann