O-Ton

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Wildes Kino

HERCULES
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
20. Februar 2022
(Premiere am 18. Februar 2022)

 

Staatstheater Karlsruhe

In der Nachkriegszeit gehören Achilleus, Hektor und Patroklos, die Helden von Troja, sowie Herakles alias Herkules zu den Fixsternen in den Träumen vieler Jungen. Die Taten des Hercules, Sohn des Zeus und der Alkmene, Bezwinger des Nemeischen Löwen und des Kretischen Stiers, befeuern ihre Fantasie in einer Zeit ohne Fernsehen. Der Film ist gerade erst dabei, die Zauberkraft der antiken Stoffe für das epische Kino zu entdecken. Ben Hur erlebt seine Premiere 1959. Als Händel 1745 Hercules im Theater am Haymarket in London zur Uraufführung bringt, ist er von höchst irdischen Motiven beseelt. Mit seinem Musical Drama, das auf dem Libretto von Thomas Broughton nach der Tragödie Die Frauen von Trachis von Sophokles beruht, möchte er der stoffgeilen englischen Oberschicht, die sich nach und nach von der Oper im italienischen Stil abwendet, ein Stück Moderne liefern.

Ein säkulares Oratorium in englischer Sprache, das sich von den hinlänglich strapazierten biblischen Vorgängern emanzipiert und den Einsatz des Chors in großer Besetzung ermöglicht. Hercules fällt durch. Zugleich scheitert das Bemühen des Komponisten, sein King’s Theatre vor dem finanziellen Ruin zu bewahren. Auch nach Händels Tod ist das Eifersuchtsdrama um die Intrige der Heracles-Gattin Dejanira, der der am Ende gar nicht mehr so heroische Bezwinger des Königs von Oechalia zum Opfer fällt, nur äußerst selten in den Spielplänen der Musiktheater zu finden.

Die Entscheidung von Ulrich Peters, dem Intendanten des Badischen Staatstheaters, den Regisseur Floris Visser mit der Inszenierung zu betrauen, ist Wagnis wie Vertrauensbeweis zugleich. Die Händel-Festspiele erleben zwar ihre 44. Ausgabe, sind aber ungeachtet dieser respektablen Tradition auf anhaltende Akzeptanz des Publikums in Corona-Zeiten angewiesen. 2017 gibt der Niederländer mit Händels Semele sein Karlsruher Hausdebüt, das in bester Erinnerung ist. Das ist so etwas wie eine halbwegs sichere Bank.

Fünf Jahre später hat Visser es mit höchst irdischen Konflikten zu tun.  Vom siegreichen Feldzug bringt Hercules die junge Königstochter Iole mit, deren Schönheit das eigentliche Drama auslöst. Dejanira wittert in ihr eine Rivalin, die ihren Platz an der Seite ihres Gemahls einnehmen könnte. Sie verfällt einer rasenden Eifersucht, die sich zum Wahn steigert. Auf dem Gipfelpunkt ihres Rasens lässt sie Hercules ein blutgetränktes, mit todbringendem Gift durchsetztes Hemd des Kentauren Nessos überreichen. Der hat es ihr nach einem vergeblichen Liebeswerben unter Vortäuschung der Tatsache zugedacht, sie könne damit einmal das Herz des Hercules zurückgewinnen, sollte der ihr untreu werden.

Iole, die Migrantin wider Willen, geht aus dem Konflikt als eigentliche Siegerin hervor. Auf Jupiters Geheiß soll sie Hyllos, den Sohn Dejaniras, heiraten, der in Liebe zu ihr entbrannt ist. Sie erklärt ihre Bereitschaft und vereinigt sich mit ihm im einzigen Duett des Oratoriums O prince, whose virtues all admire. Ein wahres Juwel vor dem Finale mit Chor, der das Andenken an Hercules, nunmehr ein Gestirn am Firmament, preist.

Visser begreift in seinem Inszenierungskonzept die antike Vorlage als ein Füllhorn dramatischer Kräfte, zu denen man aus heutiger Sicht „ein eigenes Filmskript“ erfinden müsse. So erläutert er es im Programmheft. Sein Plot hierfür könnte in der Neuzeit spielen, mutmaßlich nach dem Zweiten Weltkrieg, einer Epoche der anhaltenden seelischen Verwundungen. Die mythologisch aufgeheizten Protagonisten der Antike – Hercules steigt zu einem himmlischen Gestirn auf, ein Deus ex Machina erscheint, Götter entscheiden eheliche Beziehungen – verwandeln sich in eine durchaus normale Familie, wenn bestimmte Formate des Privatfernsehens von heute als Bezug für „normal“ dienen dürfen.

Visser liebt wilde Zeitsprünge, die der Schnitttechnik des Films folgen. Die aber das Verständnis dessen erschweren, was an Handlung zwischen Gewalt und Hingabe, Demütigung und Aufbegehren vor den Augen der Besucher dieses Händel-Kinos abrollt. Anfänglich ist Dejanira, während die trefflich musizierenden Deutschen Händel-Solisten in der Ouvertüre den Sound des Musical Dramas hervorzaubern, in einem abgesperrten Raum in einer Zwangsjacke gefangen. Der Wahn, der sie am Ende überfällt, grandios manifestiert in ihrer Arie Where shall I fly?, wird wie ihr Schicksal bereits vorweggenommen.

Es ist dann keine Überraschung mehr, wenn exakt dasselbe Bild schlussendlich wieder verwendet wird. Visser wählt die Dimension des Wahns, um einzelne, auch irrwitzige Sequenzen dieses Familiendramas als Visionen einer psychotisch Entrückten zu fassen. So in einer imaginären Gerichtsverhandlung, in der sich Dejanira gegen den Vorwurf zur Wehr setzen muss, ihren Gemahl umgebracht zu haben. Die Stimmung ist aufgeheizt, auch weil sich die „öffentliche Meinung“ in Gestalt von Übergriffen gegen sie längst ein Urteil gebildet hat. Angesichts des Furors des von Marius Zachmann sängerisch wie spielerisch glänzend eingestellten Festspielchores fällt es auch dem stumm agierenden Richter schwer, die Ordnung zu wahren. Dabei hat der mit Jealousy! Infernal pest die entscheidende Antriebskraft der Tragödie hinreißend benannt.

Das Drama des gestürzten Helden wird teils in Rückblenden unter großzügiger Verwendung von Anleihen an die heutige mediale Grundausstattung ziemlich disruptiv erzählt. Hercules beobachtet, mit großen Adlerflügeln ausgestattet, aus der Höhe das Treiben vor Gericht. Verkündet, in den Himmel aufgefahren zu sein. Kaum ist er zu den Klängen eines pompösen Marsches als siegreicher Heerführer aus dem Krieg zurückgekehrt, geleitet er wie ein Navigator Dejanira durch wichtige Stationen ihres Lebens. Ihre fast vollendete Vergewaltigung durch den Kentauren, die Hercules im letzten Moment verhindert. Ihre Hochzeit. Ihre erotische Gemeinsamkeit, als die noch möglich ist.

Ein solcher Regieentwurf braucht eine spezielle Ausstattung. Vissers spielerischer Umgang mit verschiedenen Ebenen, mit Phantasmagorien und rasch wechselnden Schauplätzen – partiell in Filmtechnik – findet in der zweistöckigen Raumkonstruktion Gideon Daveys eine adäquate Entsprechung. Dank der leistungsstarken Drehbühne gehen das Innere eines Palasts oder des Gerichts sekundenschnell in das Schlafzimmer oder die Kommandozentrale über, in der die Militärs gerade ihre Strategie festlegen. Wo sie in keiner Weise Anstalten machen, die Misshandlungen der Frauen durch das Wachpersonal zu verhindern, die mit Iole verschleppt worden sind.

Das obere Stockwerk, eine Balustrade mit einem antiken Fries, eröffnet weitere Optionen für überraschende Stellungswechsel. Die ebenfalls von Davey ersonnenen Kostüme sowie die Lichttechnik Malcolm Rippeths verstärken den vorherrschenden Eindruck einer Kinokulisse. Im wahrsten Sinne des Wortes giftgrün wird die Szene, als die Tötung von Hercules durch das vergiftete Gewand gezeigt wird.

Vissers Kino-Händel ist – kein Zweifel – spektakulär. Doch vollzieht er sich auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Aktionismus. Augenscheinlich traut der Regisseur dem Stück nicht ganz. Glaubt, dem Drama auf die Sprünge helfen zu müssen. Einzelne durchaus aussagekräftige Einfälle werden bis zur Überzeichnung traktiert, kehren sich durch Häufung in ihr Gegenteil. Nun gut, an Smartphones und Filmkameras im Einsatz hat sich der Besucher heutiger Operninszenierungen längst gewöhnt. Hier kommen Batterien von Mikrofonen hinzu. Überdies ein Fernseher im Hause des Hercules, der andauernd ein- oder ausgeschaltet wird. Ein Effekt, der bis zur Ermüdung strapaziert wird.

Nicht genug. Weidlich genutzt wird die steil aufragende Treppe für ein fortdauerndes Auf und Ab. Der Rollstuhl, in den Visser Dejanira mehrfach platziert, mutet wie ein running gag an. Jede US-Filmkomödie eines Sirk, Wilder, Lubitsch bis hin zu den schönsten Filmen von Woody Allen zeigt beispielhaft, wie Regie Kunst und Aktion kombinieren kann.

In den Deutschen Händel-Solisten mit Lars Ulrik Mortensen an Pult und Cembalo, der das hervorragende Ensemble mit einer swingenden Körpersprache in Höchstform bringt, hat die Aufführung einen exzellenten Sachwalter der Partitur. Unablässig, empathisch fordernd und begleitend, hat der Däne die Solisten im Blick, allesamt gastierende Könner ihres Fachs. In der Titelpartie zeigt der wuchtige Bariton Brandon Cedel schon zu Beginn mit The god of battle quits the bloody field auf, warum sich alles um ihn dreht. Um den Helden, wie später um das gescheiterte Idol. Die Mezzosopranistin Ann Hallenberg ist eine dunkel klagende Dejanira mit großer Bühnenpräsenz. Ergreifend in der Beschwörung The world, when day’s career is run. Anrührend in der Hoffnung, mit Hercules vereint zu bleiben, in There in myrtle shades reclined.

Als Iole ist die Sopranistin Lauren Lodge-Campbell mit ihrer elegant und lyrisch fließenden Stimme eine Idealbesetzung. Ganz besonders in der Klage My father auf den getöteten Vater, auf Knien, mit der Urne seiner Asche vor sich. Sie korrespondiert wunderbar mit Moritz Kallenberg als Hyllus, der mit seinem sanguinen Tenor und einer affektvollen Phrasierung ihr mehr als ebenbürtig ist. Das Gespann scheint die Altersdiskriminierung der Dejanira konterkarieren zu wollen, die indirekt in Vissers Inszenierung angelegt ist.

Die Händel-Festspiele sind zumeist Orte der Begegnung mit großartigen Countertenören. Der Altus James Hall kann an diese Tradition nicht anknüpfen. Unverschuldet, weil Händel dieser Nebenrolle schlicht zu wenige musikalische Optionen schenkt. Mit No longer fate relentless frown beweist er gleichwohl sein Können. Effektvoll ist die Idee des Regisseurs, mit der stummen Nurse eine zusätzliche Rolle zu kreieren. Annika Stefanie Netthorn erfüllt diesen Part mit stoischer Ruhe und gelegentlich einer Mimik, die in jede Filmkomödie von Wilder passen würde. Was in der ausgebildeten Musicalsängerin und Tänzerin steckt, wird in dem famosen Stepptanz offenbar, den sie, Sekunden zuvor noch „graue Maus“, jetzt im knalligen Rot, im Gerichtssaal vollführt.

Ein anhaltender Beifallssturm, der durchaus mit den wirklichen Stürmen draußen mithalten kann, beweist im nach Corona-Gesichtspunkten besetzten Haus die hohe Wertschätzung des Publikums für die Aufführung. Händels Oratorium hat auf dem Weg konstanter Anerkennung eine wichtige Etappe gewonnen.

Ralf Siepmann