O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Schweizer Tango

DIÁLOGOS DE AMOR
(Diverse Komponisten)

Besuch am
18. August 2024
(Einmalige Aufführung)

 

Niederrhein-Musikfestival in Schloss Dyck, Jüchen

Vor 20 Jahren fand das erste Konzert des Niederrhein-Musikfestivals im Innenhof von Schloss Dyck in Jüchen statt. Bis heute ist die Spielstätte das Zentrum des Festivals, wenn auch inzwischen zahlreiche andere Spielstätten dazugekommen sind. Und sie hat nichts von ihrem Charme verloren. Davon können sich die Besucher des heutigen Konzerts selbst überzeugen. Annette Maiburg, Flötistin, Gründerin und bis heute künstlerische Leitung des Festivals, hat sich ein paar hübsche Dinge einfallen lassen, um auch daraus wieder ein ganz besonderes Erlebnis zu machen.

Gleichgeblieben ist die anheimelnde Atmosphäre im Innenhof des Wasserschlosses aus dem 17. Jahrhundert. Vor Kopf des nahezu quadratischen Platzes die überdachte Bühne, vor der am heutigen Sonntag besonders viele Stühle aufgereiht sind. Ein institutioneller Förderer des Festivals lädt die Besucher zu kostenlosen Getränken ein. Das erlebt man nicht alle Tage. Und klug gedacht ist es auch. So bleibt man als Unterstützer nicht bloß ein Logo auf dem Papier, sondern zeigt, dass man verstanden hat, was die Besucher im Sommer brauchen. Selbst dann, wenn der Sommer ein eher theoretischer Begriff ist. Aber mit Temperaturen um 22 °C und Regenfreiheit bei leichtem Wind unter bewölktem Himmel ist man in diesem Jahr ja schon bestens bedient.

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Maiburg bleibt auch in diesem Jahr ihrem Konzept treu und lädt Musiker aus anderen Ländern ein, um gemeinsam den kulturellen Austausch zu finden. Heute ist es der Bandoneon-Spieler und Komponist Marcelo Nisinman, der in Buenos Aires geboren ist und seit einigen Jahren in Basel lebt. Der hat sich für das Konzert richtig viel Arbeit gemacht. Denn der Tango, mit dem der Argentinier großgeworden ist, wird zwar gern für das Bandoneon, eher selten aber für die Flöte komponiert. Und so hat er für diesen Abend die Arrangements geschrieben. Der Einfachheit halber gleich für alle Stücke, sofern er nicht ohnehin selbst Komponiertes zu Gehör bringt. Dass bei dem Programm Diálogos de amor – Maiburg übersetzt das frei mit Musikalische Liebesdialoge – die Musik von Astor Piazzolla einen Schwerpunkt bildet, mag auch daran liegen, dass Nisinman sein Schützling war. Als Nisinman 22 Jahre alt war, starb der große Erneuerer des Tangos.

Dementsprechend beginnt auch das Programm mit Bordel 1900 aus der Histoire du Tango, die Piazzolla in vier Teilen komponiert hat. Um 1900 war der Tango eine durchaus fröhliche Musik, die oft in den Bordellen von Buenos Aires gespielt wurde – damals tatsächlich gern mit Gitarre und Flöte. Drei Jahrzehnte später hatte sich die Musik unter diesem Namen komplett verändert. Auch davon wird das Publikum zu einem späteren Zeitpunkt erfahren. Vorläufig schließt sich überraschend Danket dem Herrn, denn er ist sehr freundlich von Dietrich Buxtehude an. Später erklärt Nisinman den Hintergrund. Musste er sich doch in seinem Studium nicht nur mit dem Tango, sondern durchaus auch ernsthaft mit Buxtehude und der Musik von Johann Sebastian Bach beschäftigen. Nun, dann ist das Publikum mit dem einen Stück von Buxtehude ja glimpflich davongekommen. Dafür wird es sogleich entlohnt, indem Maiburg und Nisinman den romantisierenden Tango Cuando tú no estás von Carlos Gardel spielen. Es bedeutet das, wonach es klingt: Wenn du nicht da bist.

Alleingelassen braucht sich allerdings niemand in der hereinbrechenden Dämmerung zu fühlen, wenn Maiburg überzeugend die Tango-Etüde Nummer 6 von Piazzolla interpretiert. Es gibt gar Zuwachs auf der Bühne, wenn die Musik wieder uralt wird. John Dowlands I saw my lady weep – Ich sah meine Frau weinen – wird nicht nur von Bandoneon und Flöte, sondern auch tänzerisch interpretiert. Für den Tanz hat Maiburg Norma Magalhães gewinnen können. Sie ist in Brasilien geboren, absolvierte ihr Studium des klassischen Balletttanzes in Deutschland und ist nach verschiedenen Stationen und Auszeichnungen beim Ballett der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg angekommen. Für die Liebesdialoge hat sie eigens Solo-Choreografien entwickelt. Und wenn man an diesem Abend eines ernsthaft bemängeln muss, dann ist es der Umstand, dass Magalhães eindeutig zu wenig auftritt. Auch wenn jeder ihrer Schritte von der klassischen Ballettausbildung zeugt, weiß sie ihr Können in eine zeitgemäße Sprache umzusetzen. Über ihre Kostüme mag man diskutieren, ihre Körpersprache ist ein Erlebnis.

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Nach diesem Höhepunkt gibt es erst mal eine Enttäuschung, die eigentlich keine ist. Im Programmzettel ist Adiós, Nonino von Piazzolla angekündigt. Wer möchte auf das Lied, das der Komponist wenige Tage nach dem Tod seines Vaters im Oktober 1959 ihm zu Ehren verfasste, verzichten, wenn es denn schon versprochen ist? Diese „Hymne der argentinischen Diaspora“ ist großartig, und man hört sie eigentlich viel zu selten. Dafür kann es nur eine Entschuldigung geben. Wie zum Beispiel die eigene Komposition des Bandoneon-Spielers, der stattdessen sein Kaddisch als eindrucksvolles Solo vorträgt, das er im Januar dieses Jahres geschrieben hat. Kompliment dazu. Wie auch zum Hombre Tango, der ebenfalls von ihm stammt und von beiden Musikern gespielt wird.

Der zweite Teil des Abends wird mit der Milonga triste, also einem traurigen Tango von Sebastian Piana eröffnet. Eine schöne Überleitung zum zweiten Teil der Histoire du Tango, dem Café 1930. Inzwischen hat sich ein radikaler Wandel in der Bedeutung dessen, was man unter Tango versteht, vollzogen. Längst ist aus der Tanzmusik eine Hörmusik geworden, die in Cafés statt in Bordellen gespielt wird. Ein Tango-Orchester setzt sich nun aus zwei Geigen, zwei Bandoneons, einem Klavier und einem Bass zusammen. Der gründliche Wechsel wird in der Besetzung Flöte und Bandoneon nicht so deutlich, wie er bei Piazzolla gemeint war, aber schließlich geht es hier nicht um ein musikwissenschaftliches Seminar über die historische Entwicklung des Tangos, sondern darum, das Publikum zu unterhalten. Und das gelingt auch in diesem Arrangement ganz wunderbar.

Eine glückliche Renaissance scheint gerade das zu Herz gehende Youkali von Kurt Weill zu erleben. Aber das Lied entfaltet seine Wirkung eindeutig in der gesungenen Version, da hilft auch das Arrangement Nisinmans nicht. Magalhães rettet mit einem weiteren Auftritt. Mit dem folgenden El Aeroplana, dem Flugzeug, einem Stück, das ursprünglich von Pedro Datta stammt und von Nisinman neu interpretiert wurde, gibt es gar Humor, wenn der Flug nicht ganz so glücklich ausgeht. Mit der Ballade Nantes von Barbara wird es unendlich poetisch, ehe eine Filmmusik von Piazzolla, die ursprünglich für Ein Tango in Paris vorgesehen war, dann aber immerhin unter dem Titel Jeanne & Paul reüssierte, zum Ende des Abends führt.

Der Schweizer Argentinier oder argentinische Schweizer hat hervorragende Arbeit geleistet und bringt sie nach begeistertem Applaus mit der Zugabe eines Tango Argentino – noch einmal unter Mitwirkung von Magalhães – zu einem mehr als gelungenen Ende. Mit Sicherheit hat hier, da sind sich auch die Besucher einig, einer der Höhepunkte des diesjährigen Niederrhein-Musikfestivals stattgefunden.

Michael S. Zerban