Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
ILLTONIC – SOLI POUR VOUS
(Diverse Komponisten)
Gesehen am
3. Mai 2020
(Livestream)
Auch, wenn so viele Kulturschaffende es nicht wahrhaben wollen: Das Internet wird noch für lange Zeit der einzige Raum oder auch später noch einer der Räume für Aufführungen sein. Es scheint besser, das frühzeitig zu akzeptieren und sich mit dem Medium und seinen Möglichkeiten auseinanderzusetzen, als vorzeitig im Wortsinn von der Bildfläche zu verschwinden. Die Frage ist nicht mehr, ob man das Internet bespielt, sondern vielmehr, wie man es attraktiv genug bespielt, um Menschen zu begeistern. Schon jetzt geistert der Begriff der Hybrid-Aufführung durch die Branche. Danach können die Zuschauer – mindestens in einer Übergangszeit – entscheiden, ob sie eine Aufführung vor Ort oder lieber vor dem Bildschirm erleben wollen.
Genauso überflüssig ist im Grunde die Diskussion, ob man seine Kunst im Internet kostenlos oder eigentlich auf eigene Kosten zeigen dürfe. Zielführend wäre es, möglichst schnell und intensiv darüber zu sprechen, welche Finanzierungsmodelle greifen können und welche Qualitätsstandards dazu nötig sind. Denn das nun unter jeden zweiten, im Internet gezeigten Aufführung ein Spenden-Button oder -Aufruf auftaucht, wird sich ziemlich schnell abnutzen, vor allem, wenn die Qualität nicht den Erwartungen entspricht.
Unter diesen Aspekten ist besonders interessant, was gerade in Illingen passiert. Illingen ist eine Gemeinde mit rund 16.000 Einwohnern im Saarland, rund 20 Kilometer von Saarbrücken entfernt. Dort gibt es den Bürgermeister Armin König, der in Personalunion Kulturamtsleiter ist. Der hat die Konzertreihe Illtonic – Soli pour vous ins Leben gerufen. Ein genialer Schachzug gleich in mehrfacher Hinsicht. Derzeit gibt es für den Kulturamtsleiter wenig Möglichkeiten, Geld auszugeben, seine Spielstätte, das Kulturforum Illipse, steht leer und produziert nichts außer Kosten. Die Gemeinde ist im Rest der Welt doch eher unbekannt. Und dann gibt es noch die Freundschaft zu den französischen Nachbarn, die in den letzten Wochen im Zusammenhang mit der Corona-Krise doch erhebliche Dellen erlitten hat. Mit einer Konzertserie mit französischem Schwerpunkt kommen alle Dinge unter ein Dach. Die Künstler erhalten ihr Honorar, das Kulturforum wird bespielt und technisch herausgefordert und die französischen Nachbarn dürfen sich geschmeichelt fühlen. Ach ja, und wenn es klappt, wird Illingen auch noch weltbekannt.
Esther Birringer – Bildschirmfoto
Zum ersten Konzert hat König die Schwestern Esther und Lea Birringer eingeladen. Die sind in Illingen zum Gymnasium gegangen, ehe sie in die Welt aufbrachen, um als Pianistin respektive Geigerin ihr Publikum zu finden. Jetzt treten sie im Kulturforum Illipse mit einem ausgesprochen abwechslungsreichen Programm auf. „Die Kultur ist die DNA Europas“, begrüßt Bürgermeister König in kurzer, knackiger Ansprache das Publikum, ehe er die Geschwister auf die Bühne bittet. Auch Lea Birringer findet ein paar Worte zur Begrüßung, ehe die beiden mit Ludwig van Beethovens Sonate für Violine und Klavier in Es-Dur beginnt. Oder genauer: Mit dem ersten Satz. Die Akustik ist dafür im Grunde zu trocken, aber das nimmt man beim virtuosen Spiel der beiden gern in Kauf.
Bis hierhin also alles in Ordnung. Gut, das Logo oben links wäre auch ein bisschen kleiner noch sehr gut zu erkennen. Auch die ständigen Einblendungen von Hinweisen darauf, auf welchen so genannten Social-Media-Kanälen die Illipse vertreten ist, nerven im Laufe des Konzerts. Ist ja keine Dauerwerbesendung. Aber mit der Kameraführung hapert es noch gewaltig. Der gute Wille ist unbedingt erkennbar, nur bei der Umsetzung gibt es deutlichen Verbesserungsbedarf. Lea Birringer wird hinter dem Mikrofon versteckt, und so viele Rückansichten einer Pianistin hat man selten in so kurzer Zeit gesehen. Dafür läuft der Kameramann – schön, dass es die variable Kamera gibt! – permanent durch das Bild der feststehenden Kameras, wenn die „on air“ sind, oder filmt den eigenen Schatten. Das lenkt alles ab. Richtig ärgerlich, aber das liegt wohl an den übertragenden Kanälen, dass die Bildqualität im beginnenden 8K-Zeitalter auf dem Niveau von Videofilmen der 1970-er Jahre liegt. Hier müssen die Anbieter dringend in der Übertragungsqualität nachbessern, wenn sie Live-Aufführungen dauerhaft etablieren wollen.
Mit dem zweiten Stück darf Esther Birringer einmal mehr ihre Virtuosität beweisen. Igor Strawinskys Trois mouvements de Petrouchka – Drei Sätze aus Petruschka – sind eine echte Herausforderung für die Interpretin, die Esther beispielhaft meistert. Die süßliche Romanze Dmitri Schostakowitschs, die die beiden wieder gemeinsam spielen, fängt die herbe Strenge Strawinskys schnell und nachhaltig ab, ehe Lea Birringer sich mit Unterstützung ihrer Schwester Maurice Ravels Tzigane zuwendet. Die Rhapsodie hat vollkommen zurecht Einzug auf ihrem neuesten Album Di tanti palpiti gefunden, die quer durch die Medien Erfolge feierte. Und in Minute 38 reißt dann die Verbindung ab. Zuerst auf YouTube, kurz darauf bei Facebook. Schlimmer kann es nicht kommen. Auch in Illingen scheint man auf diese Katastrophe nicht vorbereitet zu sein, sondern nimmt sie kommentarlos hin.
Ohne den Verantwortlichen in Illingen auf die Füße zu treten, denn sie haben erkennbar hier etwas Großartiges zeigen wollen und eine wirklich gute Idee umgesetzt – und ja auch die richtigen Solisten dafür gewonnen – aber der gute Wille allein reicht nicht. In der Gemeinde nahe Saarbrücken ist man jetzt schlauer und wird bis zum nächsten Konzert kräftig nacharbeiten. Denn für sie wie für alle anderen Kulturschaffenden gilt: Wer Publikum gewinnen will, kommt mit Hobby-Filmen nicht mehr durch. Die Kulturarbeiter, die eine große Brust machen und behaupten: Ist ja auch nicht unser Kerngeschäft, kommen damit nicht durch. Die Zeiten ändern sich, sagt ein französisches Sprichwort. Und da gehört es zum guten Ton, sich wie im richtigen Leben zusätzliches Wissen anzueignen, um den neuen Herausforderungen entgegenzutreten. In Illingen haben sie heute den ersten Schritt getan.
Michael S. Zerban