O-Ton

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Foto © Thomas Kost

Aktuelle Aufführungen

Eleganz des Leichten

ENEA IN CAONIA
(Johann Adolf Hasse)

Besuch am
13. November 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Tage Alter Musik Herne, Kulturzentrum Herne

1724 gelangt in Neapel Nicola Porporas Oper Semiramide, regina d’Assiria zur Uraufführung. Neapel ist zu der Zeit mit einer reichhaltigen Infrastruktur an Theatern, Kirchen und Klöstern sowie einer aristokratischen Elite, die großzügig Kompositionsaufträge erteilt, eine Hochburg der europäischen Musikszene. Porpora, Kopf der Neapolitanischen Schule, ist neben Alessandro Scarlatti Lehrer eines jungen begabten Deutschen, Johann Adolf Hasse, der erste Erfahrungen als Sänger und Komponist von Opern vorweisen kann. Als Giovanni Adolfo Hasse detto il Sassone macht der aus dem heutigen Hamburger Stadtteil Bergedorf stammende Meister des italienischen Fachs eine Karriere, die ihn nach Neapel zu den Stationen Venedig, Wien und Dresden führt. Und zum Erzrivalen Georg Friedrich Händels und dessen italienischen Opern macht. Von seinen 56 Opernwerken dürften Artaserse von 1730 und Siroe von 1763 die bekanntesten sein.

Jetzt, bald 300 Jahre nach der Uraufführung in Neapel, kommt es bei den 45. Tagen Alter Musik in Herne zur deutschen Erstbegegnung mit Hasses Serenata Enea in Caonia mit dem italienischen Enea Barock Orchestra. Bei dem 2018 in Rom anlässlich der ersten modernen italienischen Aufführung der Serenata gegründeten Originalklang-Ensemble handelt es sich um eine ungewöhnliche Verschmelzung von Werk und Marke. Der Name des auf seltenes Barockrepertoire spezialisierten Orchesters soll an beide Seelen in Hasse erinnern, an die italienische wie die deutsche.

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Die Serenata ist eines von 17 musikdramatischen Werken aus Hasses letzten vier neapolitanischen Jahren vor dem Wechsel 1729 nach Venedig, die beim Publikum höchst erfolgreich ankommen. „Sein spektakulärer Erfolg“, heißt es in der Programmbroschüre, „ist auch jener Strategie zu verdanken, mit der er seinen Karrierestart plant. Indem er nämlich sich selbst und den Geschmack des Publikums in der Gattung der Serenata austestet, deren Merkmale wenige Protagonisten, wenig Bühnenaktion und eine überschaubare Dauer sind.“

Die Serenata auf ein Libretto von Silvio und Luigi Maria Stampiglia nach Vergils Aeneis handelt von einem Intermezzo des trojanischen Kriegsflüchtlings Aeneas mit seinem Kampfgefährten Iso in Epirus im Gebiet Chaonia, das heute zu Albanien gehört. Regent dieses Gebiets ist Helenos, einst ebenfalls Trojaner, Sohn des Priamos und Ehemann von Andromache, Witwe seines Bruders Hektor. In dem als Naturparadies geschilderten Landstrich trifft Aeneas Ilia, eine wilde Anhängerin der Jagd, die sich frei von der Zivilisation fühlt. Helenos ist nicht nur Herrscher, sondern auch Hellseher. Aeneas weissagt er, die Reise fortzusetzen und Rom als das neue Troja zu gründen. Eine Sequenz, die auch Hector Berlioz in seiner Oper Les Troyens verarbeitet.

Auf der Bühne im großen Saal des Herner Kulturzentrums, dessen schwarze Fassade an die Kohletradition im Herzen des Ruhrgebiets erinnert, haben sich die knapp 20 Musiker des noch jungen Orchesters aufgebaut. In einer Aufstellung von Streichern, Holz- und Blechbläsern sowie Cembalo, die das Geheimnis seines Leiters Stefano Montanari ist. Dem Format der Serenata folgend, ist kein pompöses Barockspektakel à la Leonardo Vincis Artarserse zu erwarten, das drei Jahre nach Hasses Werk zur Uraufführung gelangt. Dafür versprechen die Instrumentalisten im Verein mit den fünf Solisten eine konzertante Aufführung im Stil von Einfachheit und Natürlichkeit, absolut getreu seinem arkadischen Sujet. „Zurück zur Natur“ heißt das Motto dieser Tage der Alten Musik. Es wird zwar dem Sujet der Serenata Hasses gerecht, nicht aber seiner damals als zukunftsgerichtet empfundenen Formensprache.

Die Aufführung löst das strukturelle Versprechen eines Hasse-spezifischen melodischen Fließteppichs mit überraschenden Eruptionen, wilden Wechseln des Rhythmus und von Naturgewalten umtosten Koloraturen weitgehend ein. Montanari, irritierend underdressed, setzt seine ganze Physis, Athletik und Körpersprache ein, um die Solisten auf dieser Reise durch die gezügelten Tonlandschaften harmonisch und gleichberechtigt mitzunehmen. Man mag solche Attitüden mögen oder auch nicht. Unter dem Strich spricht das Ergebnis für eine solche Dirigierextravaganz, auch wenn dann gewisse Einschränkungen nicht unerwähnt bleiben sollen. Die beziehen sich auf eine anfängliche Spannungslosigkeit zwischen den Musikern und den Solisten im ersten Teil, ein Manko, das sich im zweiten Teil durch ein Anziehen der Dynamik und auch der Tempi erledigt.

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Die sängerischen Höhepunkte einer Aufführung, die bei vier Solistinnen neben einem zudem mit schwächerem Part ausgestatteten Tenor als Abend der Frauenstimmen in die Geschichte der Tage der Alten Musik eingehen dürfte, liegen eh im zweiten Teil der Serenata. Bei Ausnahme der Aria der Ilia E vero, che son povera als finales Stück der parte prima, die die Sopranistin Giulia Bolcato mit lyrischem Schmelz und subtilem Verständnis für die Freiheitssehnsucht des Naturmenschen interpretiert. Die zweite Sopranistin im Bunde, Paola Valentina Molinari als Eleno, beherrscht das dynamische wie das lyrische Fach souverän. In Niso spesso li sguardi spürt sie einfühlsam den inneren Empfindungen des Enea-Gefährten nach.

Überraschend kommt ihr und nicht der Titelfigur die letzte Arie des Stücks vor dem finalen Coro aller Solisten zu, was Molinari mit Bravour und einem wunderbaren Gefühl für die dynamische Pause bestätigt, die sie mit dem Dirigenten geradezu auskostet. Luca Cervoni hat als Niso bis dahin seine Loyalität zu Enea unter Beweis gestellt und noch einmal anschaulich mit energischem Material die Schrecknisse nach dem Fall von Troja geschildert. Dell’arsa patria nostra.

Wollte jemand wie einst Paris den Apfel der Schönsten unter den drei Göttinnen, hier der vokalen Schönheit der Aufführung, überreichen, ginge der wohl an die Mezzosopranistin Gaia Petrone in der Rolle der Andromaca. Ihre souveräne Gesangstechnik und ihre mühelosen Registerwechsel bei einer wohlig-warmen Mittellage triumphieren insbesondere in der Arie É pur dolce e il vedere, in der sie die Freude über die Begegnung mit Vertrauten in der Fremde besingt. Die Altistin Anthea Pichanick bringt die gespaltene Gefühlswelt des Enea mit dunkel timbrierter Stimme wundervoll zum Ausdruck. In Troia bella distrutta dal foco die Erinnerung an das zerstörte Troja. Im Ausruf Deh! se ti fia palese die freudige Erwartung einer harmonischen Zukunft.

Das Publikum quittiert die Leistungen aller Mitwirkenden mit minutenlangem Applaus und Bravo-Rufen. Hasses leichte Eleganz, die einst Europas Musiktheater erobert, hat in Herne neue Anhänger gefunden. Vielleicht nähert sich der WDR als Veranstalter der Tage Alter Musik in den kommenden Jahren einmal einer Hasse-Oper. Stoffe zur Auswahl gäbe es ja genügend.

Ralf Siepmann