Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
SPANNUNGEN 2023 Teil 1
(Diverse Komponisten)
Besuch am
18., 19. und 20. Juni 2023
(Einmalige Aufführungen)
Die Pforten des Heimbacher RWE-Kraftwerks zum mittlerweile traditionellen Kammermusikfestival Spannungen sind wieder geöffnet. Zum ersten Mal ohne Lars Vogt, den Spiritus Rektor und Motor des erfolgreichen Festivals. Bis zum Sonntag zieht das Eifelstädtchen, wie seit 25 Jahren, Musikfreunde und renommierte Musiker aus nah und fern an. Dass das nach dem frühen Tod des Gründers weiterhin möglich ist, ist nicht nur dem Einsatz des Arbeitskreises Spannungen im Kunstverein Düren, der Treue seiner musikalischen Weggefährten und des Publikums zu verdanken, sondern auch ihm selbst. Mit seiner ansteckenden Begeisterung, seiner menschlichen Wärme und seiner künstlerischen Autorität erfüllte er das Festival mit einer kreativen Energie, mit der es auch ohne ihn weiterleben kann.
Die nachhaltige Stärke dieser Energie zeigt sich auch darin, dass sich ein Dreierteam viel beschäftigter Musikerinnen bereit erklärte, in kurzer Zeit ein gewohnt spannendes Programm zusammenzustellen und damit den ausdrücklichen Wunsch von Lars Vogt auf eine Fortführung des Festivals erfüllen zu wollen. Die Suche nach Interpreten dürfte angesichts der Beliebtheit des Festivals bei den Musikern weniger Mühe bereitet haben. Wohl aber die Koordination, die Programmwünsche und -vorschläge der Musiker zusammenzuführen. Eine große Leistung, auch wenn man sich in diesem Jahr mit 20 Interpreten begnügt und, mit Ausnahme der Klarinettistin Sharon Kam, auf Bläser verzichtet. Klavier und Streicher geben den Ton an.
Mit Sharon Kam, der Geigerin Antje Weithaas und der Bratschistin Barbara Buntrock als künstlerische Leiterinnen sorgen in diesem Jahr treue und enge Freundinnen des Festivals für Kontinuität. Wobei früh feststand, dass die Besetzung der künstlerischen Leitung durch ein Dreier-Team als Interimslösung gedacht war. Im Laufe der Woche entscheidet sich, wer das Festival in den nächsten Jahren leiten wird. Das Ergebnis wird am Sonntagabend im Rahmen des Abschlusskonzerts bekanntgegeben. Unabhängig von dem Ausgang steht bereits jetzt fest, dass die Spannungen weitergeführt werden.
Sharon Kam, Kiveli Dörken und Julian Steckel bei der Uraufführung eines Lars Vogt gewidmeten Werks von Thomas Larcher – Foto © Georg Witteler
Wobei die Erinnerung an Lars Vogt nicht schwinden wird. In diesem Jahr schmückt eine Galerie ein- und ausdrucksvoller Portraits die Wände des Kraftwerks. Seine Eltern, Geschwister und seine eigene Familie waren im Eröffnungskonzert anwesend. Seine Tochter Isabelle wird am Sonntagvormittag die Meditationstexte zu Haydns Sieben letzten Worte rezitieren und seine Witwe, die Geigerin Anna Reszniak, ließ es sich nicht nehmen, zum Auftakt in Maurice Ravels Klaviertrio und einer kammermusikalischen Version von Beethovens Pastorale mitzuwirken.
Einen zusätzlichen persönlichen Akzent erhalten die Konzerte der Woche durch die Uraufführungen von Werken, die acht Komponisten eigens zum Gedenken an Vogt in kurzer Zeit geschaffen haben. Am Eröffnungsabend stand Nucleus für Klarinette, Violoncello und Klavier des österreichischen Komponisten Thomas Larcher auf dem Programm, der 2002 und 2010 als „Composer in Residence“ in Heimbach vertreten war und in einer persönlichen Botschaft bekannte, wie sehr ihn Vogt motivierte, als Komponist weiterzuarbeiten. Sein neues Werk strahlt eine tiefe innere Ruhe aus, die allmählich an emotionaler Intensität zunimmt. Eine Hommage an den verstorbenen Freund, würdig ausgeführt von Sharon Kam, der Pianistin Kiveli Dörken und dem Cellisten Julian Steckel.
Es war gewiss im Sinne von Vogt, dass sich kein Trauerflor über die Stimmung des Abends legt. Nach der introvertierten Einkehr durch Larchers Meditation schließt man den ersten Programmteil mit Hugo Wolfs leichtfüßiger, hintergründig ironisch gefärbter Italienischer Serenade heiter gestimmt ab. Auch nach der Pause dominieren mit Beethovens Pastoral-Symphonie lichte Töne. Beethovens Vision einer Welt, in der der Mensch mit sich und der Natur in harmonischem Einklang lebt: eine Botschaft, die sich mit Vogts Menschen- und Weltbild deckt.
Michael Gottfried Fischers Fassung der Symphonie für sechs Streicher ist zwar etwas gewöhnungsbedürftig. Aber die geschickte Bearbeitung des ohnehin nicht martialisch gestimmten Werks bewahrt doch die Grundsubstanz des Werks erstaunlich gut. Der allererste Beitrag des Abends markiert zugleich einen frühen Höhepunkt des Festivals: Maurice Ravels Klaviertrio in einer leidenschaftlich vitalen, gleichwohl klanglich fein ausgehörten Interpretation durch Kiveli Dörken, Anna Reszniak und Julian Steckel, der an diesem Abend an allen Werken beteiligt ist.
Standing ovations für alle Mitwirkenden. Auch die Begeisterung des Publikums im vollbesetzten Kraftwerk ist Ausweis für die Lebenskraft des Festivals.
Spannungen: Die Programme der zwei folgenden Konzerte zum Wochenbeginn treffen einen zentralen Nerv des Heimbacher Kammermusikfestivals, den Vogt mit dem Titel Spannungen reizen wollte. Interessanter noch als die bunten Zusammenstellungen von Werken aller Gattungen von Komponisten aller Epochen und Stile sind die oft überraschenden Querbeziehungen, die sich aus den Werkfolgen ergeben. Wirkungen und Einsichten, die sich nicht planen lassen, sondern sich spontan bei Interpreten und Zuhörern einstellen können und zur Lebendigkeit des Festivals beitragen.
Antje Weithaas, Martin Helmchen und Marie-Elisabeth Hecker spielen Mozart. – Foto © Georg Witteler
Das betrifft selbst wohlbekannte Großmeister wie Wolfgang Amadeus Mozart, wenn mit dem dunkel gestimmten, aufwühlenden Streichquartett in d-Moll KV 421 und dem entspannt leichtfüßigen Klaviertrio in E-Dur KV 542 der weite Kosmos seiner Musik angerissen und jedem einseitigen Klischee die Luft aus den Segeln genommen wird. Voraussetzung für solche Einsichten sind Interpreten, die die spezifischen Merkmale der Musik auch umsetzen können. Und die Riege der erstklassigen Musiker bildet eine weitere Säule des Erfolgs der Spannungen. Wobei gerade die wechselnden Besetzungen besonders spannende Erlebnisse garantieren. Auch wenn nicht jedes Detail so perfekt austariert werden kann, wie man es von jahrzehntelang aufeinander eingespielten Quartett- oder Trio-Vereinigungen gewohnt ist.
Die Vogt gewidmeten Stücke von acht ihm besonders verbundenen Komponisten verleihen jedem Konzert einen zeitgenössischen Akzent. Mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie der selbstbewusst, geradezu rebellisch in die Männerdomäne eingedrungenen österreichischen Komponisten Olga Neuwirth und ihrem zurückhaltenderen Kollegen Thorsten Encke. Die beiden kurzen, aber eindringlichen Stücke tragen die Cellistin Tanja Tetzlaff und die Klarinettistin Sharon Kam entsprechend vor.
Zwei dicke Brocken mit Johannes Brahms‘ Klavierquintett in f-Moll opus 34 und dem Konzert für Violine, Klavier und Streichquartett von Ernest Chausson setzen die Schlusspunkte. Zwei persönlich geprägte Schlüsselwerke der Komponisten, die zugleich zeigen, wie sehr sich der Franzose nach dem Trauma des deutsch-französischen Kriegs 1870/71 den Einflüssen von Brahms, dem deutschen Prinzipal der damaligen Kammermusik, zu entziehen versuchte. Dass beide Interpretationen mit der gewohnten Leidenschaft der Heimbach-Musiker beim Publikum begeisterten Applaus hervorrufen, überrascht nicht.
Auch an ausgesprochenen Raritäten mangelt es nicht. Etwa mit den feinen, impressionistisch luftigen Mythen für Violine und Klavier des viel zu wenig beachteten polnischen Meisters Karol Szymanowski, ausgeführt von Florian Donderer und Kiveli Dörken, und dem Streichquintett der englischen Komponistin und Frauenrechtlerin Ethel Smythe, die sich mit unnachgiebiger Stärke einen Platz als Komponistin eroberte. Die allerdings, wie die meisten ihrer gar nicht so wenigen Kolleginnen, schnell in Vergessenheit geraten ist und erst seit der Frauenbewegung in den 1970-er Jahren überhaupt wieder zur Kenntnis genommen wird. Komponierende Frauen: Ein Thema, das in den kommenden Jahren für zusätzliche „Spannungen“ sorgen könnte.
Pedro Obiera