O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sandra Then

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Schraube ohne Halt

THE TURN OF THE SCREW
(Benjamin Britten)

Gesehen am
23. April 2021
(Premiere/Stream)

 

Staatsoper Hannover

1954 hat Benjamin Britten in Venedig seine auf einer Vorlage von Henry James aus dem Jahr 1898 und dem Libretto von Myfanwy Piper basierende Oper The Turn of the Screw zur Uraufführung gebracht.

Das Werk ist seitdem als Kurzoper in einer Besetzung mit nur dreizehn Instrumenten und einer Folge von zwei mal acht Szenen in zwei Akten mit rund 100 Minuten Spiellänge fest im Britten-Repertoire der Opernhäuser verankert. Im Charakter ähnelt es manch späterem Werk des Komponisten im Hinblick auf die Ergründung unausgesprochener Rollen eines Außenseitertums.

In der Handlung erhält eine junge Gouvernante die Aufgabe, zwei Kinder auf einem entlegenen Landgut zu betreuen. Nach freundlichem Empfang durch eine Haushälterin und einen Verwalter tauchen jedoch alsbald die Geister eines wohl erst kürzlich zuvor verstorbenen oder verschwundenen Bediensteten-Paares auf, deren bedrohliche Rollen immer bezwingender wirken.

Obwohl nicht klar ausgesprochen, ergibt sich immer zwingender der Eindruck einer zuvor erlittenen, auch sexuellen Misshandlung der Kinder durch das verstorbene Betreuerpaar. Aber der Perspektivwechsel entwickelt sich wie in einem nie endenden wollenden Dreh der Schraube, sprich: psychologischen Vexierspiel, unendlich weiter.

Gab es diese Misshandlungen wirklich? Waren sie Realität oder drängen sie sich der Gouvernante oder auf der nächsten Ebene gar dem Zuschauer selbst aufgrund seiner eigenen psychologischen Disposition „nur“ auf?  Das Labyrinth nimmt kein Ende.

Neben der Charakterstudie der Gouvernante ist der Junge Miles vielschichtiges Prisma in dieser Spiegelwelt. Es endet übel: Der Junge stirbt – „Das Heiligtum der Unschuld ist zerstört.“

Der Regisseur Immo Karaman hat Erfahrung mit dem Werk. Er hat bereits in den vorangegangenen Jahren das Werk an deutschen Opernhäusern, nämlich in Leipzig und Düsseldorf, inszeniert. Zusammen mit Thilo Ullrich, der für die Bühne verantwortlich zeichnet, und den Kostümen von Fabian Posca, dem Licht von Susanne Reinhardt sowie der Videokunst von Philipp Contag-Lada entstand ein minutiös ausgestaltetes, exakt ablaufendes Präzisionsuhrwerk, das den Zuschauer in seinen Bann schlägt.

Dabei werden eine Vielzahl holzschnittartiger, überwiegend schwarz-weiß gestalteter, filmisch überblendeter Szenen geschaffen, die wiederholt äußerst geschickt mit ebenfalls dunkel-kontrastierenden Videoeinblendungen verbunden werden. Gothic Horror und Psychologisierung. Im Effekt entgleitet dem Betrachter das Gefühl für die Realität des Erschauten. Ist das Realität, oder war es Ausdruck einer zwingenden psychologischen Interpretation der Personen der Handlung oder gar einer Phobie des Zuschauers selbst, der in den moralischen Instinkten seines eigenen Empfindens gefordert wird?

Foto © Sandra Then

Es wird spannend sein, dieses Online-Erlebnis eines Tages mit der Umsetzung auf der Bühne zu vergleichen – auf dem Bildschirm wirkt es filmisch sehr gut. Wie werden die Sängerdarsteller wirken, wenn sie live diese Handlungs- und Albtraumsequenz verkörpern? Kommen wir dann womöglich zu dem Schluss, dass wir gleich am Fernseher sitzen bleiben können?

Sarah Brady singt und spielt eine höchst eindrucksvolle und psychologisch vielschichtige Governess. Ihr in Stimme und Darstellung sich beständig steigernder Ausdruck lässt den Betrachter schon bald nicht mehr los. Schonungslos steigert sie sich in immer einsamere Schichten ihrer Verlorenheit. Gerade ihr Rollenporträt ist Garant dafür, dass wir auch in Zukunft das Erlebnis einer Live-Aufführung nicht missen wollen.  Jakob Geppert ist Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund. In seiner äußeren Erscheinung und schauspielerischen Darstellung der Rolle des Jungen Miles kreuzen sich alle Linien der von ihm erwarteten, dominanten Männlichkeit – ein Leidensbild, an dem die Figur des Knaben zerbricht. Eine großartige Darstellung.

Die zuvor auf dem Landgut verstorbene Gouvernante Miss Jessel und der ebenso als Geist wiederkehrende Hausverwalter Quint werden von Barno Ismatullaeva und Sunnyboy Dladla in ihren unbestimmten Parallelwelten überzeugend gestaltet. Das Ensemble wird durch Miles‘ Schwester Flora von Weronika Rabek sowie Monika Walerowicz als Mrs. Grose perfekt abgerundet.

Die dreizehn Mitglieder des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover unter Stephan Zilias spielen die Partien auf etwa 19 Instrumenten mit äußerster Klarheit und präzisester Durchhörbarkeit. Auffällig ist lediglich eine konstante summende Begleitung des Klangs – möglicherweise vom Dirigenten?

Das schadet der ausgewogenen Gesamtwirkung der gelungenen Ton-Regie der Übertragung jedoch nicht, die Bühne und Orchestergraben ausgesprochen plastisch und ausgewogen wiedergibt. Die Videoübertragung funktioniert auch in Bildregie und -wiedergabe insgesamt tadellos, was ja nicht jedem Haus bei dieser Art Online-Veranstaltungen auf Anhieb gelingt.

Achim Dombrowski