O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Katrin Ribbe

Aktuelle Aufführungen

Künstlerprekariat

DER ENTERTAINER
(John Osborne)

Besuch am
21. Oktober 2017
(Premiere)

 

Schauspiel Hannover

Stücke wie Osbornes Entertainer laufen Gefahr, in gefälligem, tragisch angehauchtem Metatheater zu versumpfen.  Das Schauspiel Hannover agiert weitsichtiger. Unterhaltung wird großgeschrieben, freilich weitet sich die Perspektive vom Showbiz auf die Mentalität von beruflichen und gesellschaftlichen Absteigern. So heftig das ausverkaufte Haus bespaßt wird, der Ernst der Lage bleibt unverkennbar.

Für Martin Laberenz drängen im Niedergang der Entertainer-Dynastie Rice die Atavismen einer Familie, die unaufhaltsam ins Prekariat abrutscht, zutage. Im Zeichen des Bedeutungsverlustes der Music-Hall und des aufkommenden Fernsehens in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts verpasst Archie Rice den Anschluss an das neue Medium. Weiterhin am überständigen Format klebend, versumpft er im beruflichen Sinkflug fortschreitend in den pointenmäßigen Rohrkrepierer und die Zote. Immerhin bevorratet er dabei das Publikum auf mindestens das kommende halbe Jahrzehnt mit deftigeren als nur anzüglichen Witzen. Das geht so lange, bis niemand mehr über den Schweinkram lacht. Musikalisch zeigt sich Archie sanglich wie tänzerisch agil und versiert, allerdings nur, wenn er die alten Music-Hall-Nummern zum Besten gibt. Die aber mag kein zahlendes Publikum mehr hören. Sohn Frank versucht sich als Rockmusiker, nicht untalentiert, aber erfolglos, da er dem Mief des Rice-Clans nicht entfliehen kann. Prekäre Konstellationen wie die von Osborne gezeichneten und von Laberenz kongenial heraus präparierten, beschränken sich nicht auf den Dunstkreis des Theaters. Wer im digitalen Zeitalter erinnert sich noch an die einst umworbenen Fachleute für das Lochkartenwesen?

POINTS OF HONOR

Musik
Schauspiel
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Laberenz baut auf exzellentes Schauspielertheater. Seine Dialogregie legt atemberaubende Tempi vor, wozu Osbornes geradezu musikalisch komponierter Text freilich die Steilvorlage liefert.  Figurenspezifische Floskeln, Pointen, Repliken und Sottisen tischen die Akteure mit virtuoser Beiläufigkeit auf. Bisweilen gibt sich das Parlando den – milieugerechten – Anschein des aufgekratzt Boulevardesken. Unausgesetzt kracht es mit Verve in die Sackgasse. Familie Rice bedarf solcher Rastlosigkeit, um den Leerlauf des prekären Daseins zu überspielen. Was fortschreitend misslingt.  Die Szene gefriert zu peinlichen Pausen.

Stark patiniert, aber rasant kommen die von Jana Ritzen choreografierten Music-Hall-Nummern über die Rampe. Da wird gesteppt und die Showtreppe betanzt, als ließe sich das erledigte Showformat tatsächlich reanimieren. Muntere Balletthäschen schwingen das Tanzbein und wiegen allzeit bereit die weißen Bunnyköpfchen.

Das musikalische Trio aus E-Gitarren und Schlagzeug unter Leitung von Leo Schmidthals, zu dem sich Lars Ehrhardt und Christoph Keding gesellen, gleicht sich stilsicher und perfekt der Music-Hall an, untermalt Dialoge mit Lounge-Klängen und rockt, was das Zeug hält.

Foto © Katrin Ribbe

Volker Hintermeier baut eine doppelläufige Showtreppe, in deren Scheitel die Band einem Zirkusorchester ähnlich positioniert ist. Den von der Stiege beschriebenen Halbkreis nutzt Hintermeier, um die Wohnung der Rices einzupassen. Show- und Privatsphäre mischen sich, indem Glühbirnen die Holzvertäfelungen des schäbigen Salons rahmen.  Ob Hintermeier wirklich – wie es scheint – alle Wohnungsauflöser der Landeshauptstadt beauftragen musste, um seine Bühne mit 1950-er-Jahre-Möbeln vollzustopfen, steht auf einem anderen Blatt. Im Hintergrund prangt ein Union-Jack in den Abmessungen des Bühnenportals.

Die Kostüme von Aino Laberenz zeichnen das Milieu prägnant und augenzwinkernd. Trefflich heben sich die Mitglieder der Familie Rice voneinander ab. Während Patriarch Billy sich soigniert in Hausjacke und Krawattenschal kleidet, läuft dessen Schwiegertochter Phoebe meist im eleganten Pyjama durchs Haus. Abenteuerlich kombiniert Sohn Frank Hemd und Hose. Seine Halbschwester Jean gibt sich modisch zugleich forsch und verspielt. Archies Showgarderobe beweist erlesenste und durchdachteste Geschmacklosigkeit. Die finalen Szenen absolviert er im geblümtem Smoking-Jackett mit ebenso gemusterten Shorts.

Trotz geschlossener Ensembleleistung räumt die Regie den Akteuren vielfältige Gelegenheit zur Profilierung ein.  Henning Hartmann in der Titelrolle ist primus inter pares. Hartmann gibt – kaum noch Mensch – das personifizierte Entertainment, die wandelnde billige Pointe. Die verkörperte abgedroschene Zote. In seiner rastlosen Starrköpfigkeit ist ihm eine gewisse Größe nicht abzusprechen. Gesanglich verfügt er über eben das Können, das es einst für die Music-Hall brauchte. Hagen Oechel als sein Vater Billy lebt die immergleichen Floskeln virtuos repetierend meist im Gestern. Mitunter durchzucken ihn Geistesblitze und erhellende Einsichten. Katja Gaudard als Archies verhuschte Frau Phoebe versucht auf haarsträubende Weise, die Contenance zu wahren. Hannah Müller ist Jean. Die Tochter des Hauses durchschaut die familiären Konstellationen. Ihr kurz angebundener, scheinbar cooler Lapidarstil kann die Sympathie für die Familienmitglieder nicht verhehlen. Wie Jean sich des Vergewaltigungsversuchs durch den Vater erwehrt, weckt menschliche Hochachtung für dessen Tochter.  Sebastian Weiss als Frank Rice überzeugt vor allem, indem er den Saal rockt. Janko Kahle gibt William Rice jene Souveränität mit, die das Leben erfolgreich meistert.

Ensemble und Leitungsteam werden gefeiert. Das Schauspiel Hannover hat eine Produktion im Spielplan, die mehr über prekäre Verhältnisse aussagt als die meisten Reportagen.

Michael Kaminski