O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Micha Neugebauer

Aktuelle Aufführungen

Gelungene Weihnachtsstimmung

A CHRISTMAS CAROL
(Henrik Albrecht)

Gesehen am
20. Dezember 2020
(Video on Demand)

 

Norddeutscher Rundfunk, Großer Sendesaal, Hannover

Vor vielen Jahren fand Henrik Albrecht eine Nische. Der in Köln lebende Komponist begann, Orchestererzählungen zu verfassen. Bekannte Literaturstoffe werden zu Hörspielen verarbeitet, in denen das Orchester eine gleichberechtigte Rolle neben den Sprechern oder Sängern spielt. Das kalte Herz, 20.000 Meilen unter dem Meer oder Pinocchio sind nur einige von vielen Beispielen, die inzwischen ihren Weg auf die Bühnen und auf CD gefunden haben. Einen besonderen Erfolg konnte Albrecht mit seiner Verarbeitung von A Christmas Carol nach der gleichnamigen Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens verzeichnen. 2012 wurde das Werk mit Orchester und drei Sprechern im Großen Sendesaal des Norddeutschen Rundfunks (NDR) in Hannover uraufgeführt. Eigentlich ist Albrecht schon gewohnt, eine Ausnahme unter den Komponisten der Gegenwart zu sein, denn seine Stücke werden in der Regel mehr als einmal aufgeführt und verschwinden nicht sofort nach der Uraufführung in der Schublade. Bei der Weihnachtsgeschichte lief es noch besser. Sie entwickelte sich zu so etwas wie einem Repertoire-Stück, wird alljährlich aufgeführt und ist mittlerweile in verschiedene Sprachen übersetzt. Mit der neuesten Aufführung allerdings hatte der Komponist nicht gerechnet.

Wenn man ehrlich ist, muss man zugestehen, dass es selbst öffentlich-rechtlichen Sendern nicht leicht fallen dürfte, zu Weihnachten noch eine einigermaßen originelle Produktion vorzustellen. Riesengroß war das Angebot schon vor dem Lockdown, verteilte sich aber noch einigermaßen regional und lokal. Mit dem Aufführungsverbot vor Publikum drängen nun zusätzlich viele Angebote ins Netz. Und wenn nicht einmal die Weihnachtsaufführung auf der Bühne des Großen Sendesaals stattfinden darf, wird es allmählich eng. Die Idee, Drei Haselnüsse für Aschenbrödel zu verfilmen, stieß da auf wenig Gegenliebe. Das Märchen kann man sich als Spielfilm in einer wunderbaren Verfilmung unendlich oft im Fernsehen anschauen.

Wolf-Dietrich Sprenger – Foto © Micha Neugebauer

Was aber, wenn man eine Orchestererzählung als Video aufnimmt? Zeitgenössische Musik, die sich gut anhören lässt, eine schöne Geschichte müsste es schon sein und man könnte wenigstens ein paar freischaffende Künstler beschäftigen. Und so kommt A Christmas Carol von Henrik Albrecht zu neuen Ehren. Der Komponist wurde angefragt, ob er eine „Corona-taugliche“ Fassung der Musik anfertigen könne und möglicherweise auch Regie führen wolle. Als Albrecht erfuhr, dass bei den Sprechern das Personal der Uraufführung bereitstünde, kannte seine Freude kaum noch Grenzen. Die Regie vor Ort traut er sich zu, aber im Film- und Video-Metier ist er nun wirklich nicht zu Hause. Also wird für die Bildregie Alexander Radulescu gewonnen. Nach einem Violinstudium in Düsseldorf und dem Studium der Musiktheater-Regie in Hamburg hat er sich längst einen Namen als Regisseur im Bereich Musik-, Theater- und Tanzfilm gemacht. Außerdem ist er für seine Jugendarbeit und innovative Opernregiearbeiten bekannt. Damit ist eine hochkarätige Besetzungsliste abgerundet.

Die Regie-Arbeit ist überschaubar. „Spielplatz“ ist die Bühne. Da bleibt unter Wahrung des Abstands wenig Raum für Bewegung. Albrecht kann sich also auf ein paar Ausstattungsdetails konzentrieren. Vor allem aber kann er den Sprechern mit Hörproben helfen. Den Rest muss Radulescu mit fünf Kameras bewältigen. Der Regisseur hat einen wunderbaren Blick für Details und ein hervorragendes Fingerspitzengefühl für Einsätze. Höchst originell schaffen Bilder von der Weihnachtsdekoration, von historischen Bildchen, die zufällig mit im Baum hängen, gleichmäßige Wechsel zwischen Personen- und Orchesteraufnahmen viel Bewegung in der vorgegebenen Handlungsarmut.

Henrik Albrecht – Foto © Micha Neugebauer

Seiner musikalischen Vorbildung ist zu verdanken, dass auch Frank Strobel wirkungsvoll in Szene gesetzt wird. Strobel übernimmt die musikalische Leitung des minimierten Orchesters, das von der Radiophilharmonie gestellt wird. Eine Orchestererzählung à la Albrecht hat durchaus ihre Herausforderungen. Denn der Komponist weist dem Orchester verschiedene Rollen zu. Neben einer programmatischen Grundstimmung muss das Orchester persönliche Emotionen von Darstellern in der Szene, aber auch markante Geräusche wie ein Kettenrasseln, eine Glocke oder wie hier Schreibmaschinengeräusche abbilden. Lebhaft und aufmerksam motiviert Strobel seine Musiker, die mit hoher Präzision und Spielfreude folgen. Regelrecht Spaß macht ihnen, die zahlreichen Zitate aus bekannten Weihnachtsliedern zu akzentuieren, die Albrecht eingebaut hat.

Vor solcher Klangfassade dürfen die Sprecher glänzen. Erzähler und Neffe ist Jens Wawrczeck, der überwiegend aus einem buntkarierten Lehnsessel heraus die nötige Neutralität trifft, um die Handlung der Geschichte voranzutreiben. Ebenizer Scrooge, Geldverleiher in London, der in der Weihnachtsnacht eine glückbringende Wandlung erfährt, ist eine großartige Rolle und Schwergewicht Wolf-Dietrich Sprenger findet nicht nur den richtigen Ton, sondern in jeder Kameraeinstellung auch die rechte Mimik. Und wer bis hierhin noch nicht restlos begeistert ist, wird bei Matthias Keller seinen Ohren kaum trauen. Der Mann übernimmt mal eben die restlichen Rollen, es sind weniger als zehn, ohne dass Verwechslungsgefahr zwischen den einzelnen Stimmen besteht. Auch für Hörspielkenner gibt es hier ein richtig großes Weihnachtsgeschenk. Eine solch geballte Brillanz gibt es selbst beim Hörfunk nicht jeden Tag.

Diese Produktion ist ein absoluter Glücksfall, der in der gezeigten Qualität tatsächlich nur online möglich ist. Denn Tonmeister Hans-Ulrich Bastin zeigt hier das ganze Können der Technik in einer Ausgewogenheit, die in einer Live-Aufführung schlicht nicht erreichbar ist. Wenn der NDR für dieses Werk eine Altersempfehlung ab sechs Jahren ausspricht, möchte man fast sagen: Für Kinder viel zu schade. Nein, ist es natürlich nicht. Und Kinder werden vermutlich sehr viel Freude mit dieser Erzählung haben. Als Erwachsener aber wird man geradezu beglückt – und eine gute Stunde vergeht wie im Fluge. Wer in diesen Tagen einfach mal eine Stunde abschalten und sich auf Weihnachten besinnen will, ist mit dieser Produktion bestens bedient.

Michael S. Zerban