O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nadja Häupl

Aktuelle Aufführungen

Alternative Wahrheiten

ZWEI STUNDEN NACH MITTERNACHT
(Maurice Lenhard)

Besuch am
23. Juni 2019
(Premiere am 20. Juni 2019)

 

Hochschule für Musik und Theater Hamburg,
Theaterakademie Hamburg

Eine unlösbare Frage: Wer war Maria Stuart? Eine rund 450-jährige Geschichte steht zwischen uns und der historischen Figur. In unzähligen Dokumenten, Biografien, literarischen Verarbeitungen wurde über ihr Leben, ihre Handlungen, ihre möglichen Absichten geschrieben und spekuliert. Dabei sind nicht einmal die ihr zugeordneten Briefe heute Dokumente, denen wir vertrauen wollen. Was kann man also machen, um die Person, deren Handeln wir verstehen wollen, kennenzulernen?

Salopp könnte man sagen, die Frage ist falsch gestellt. Es geht dem Regisseur Maurice Lenhard in der Abschlussarbeit für seinen Bachelorabschluss Musiktheater-Regie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg ja gar nicht um Maria Stuart. Es geht stattdessen um eine Sichtbarmachung von Mechanismen menschlicher Vorgehensweisen, um das Bild einer in der Öffentlichkeit stehenden Person zu prägen, speziell bei Frauen. Denn problemlos lassen sich heute aktuelle Parallelen in der medialen Darstellung von Hillary Clinton oder Prinzessin Diana ziehen. Verbreitung und Beschleunigung sind heute schneller, aber die Grundmechanismen sind gleichgeblieben, sagt der Regisseur.

Wie wird das auf der Bühne umgesetzt?  Im Kern kommt das Monodram An diesem heutigen Tage des Komponisten Wilfried Hiller mit dem Libretto von Elisabet Wolska aus dem Jahr 1974 zur Aufführung. Das Werk ist für eine Schauspielerin und vier Schlagzeuger mit breit gefächerten, teils ungewöhnlichen Perkussions-Instrumenten geschrieben. Der Text besteht im Wesentlichen aus Briefen, die Maria Stuart an unterschiedliche Adressaten geschrieben haben soll. Die Anordnung ist collagenhaft, die Abfolge erscheint sprunghaft und nicht logisch nachvollziehbar. Das Geschehen endet im Gang zur Hinrichtung zwei Stunden nach Mitternacht.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Weiterhin erklingt wie als Rahmen die Funeral Music of Queen Mary von Henry Purcell aus dem Jahre 1695, vorgetragen von vier Gesangssolisten und Blechbläsern. Sie wurde für Mary II. geschrieben, bei deren Tod das Land in eine vergleichbare Trauer verfiel wie 1997 wieder anlässlich des Unfalltodes von Princess Diana.

Epizentrum der Aufführung ist die junge Schauspielerin Sarah Zelt, die in Hillers Monodram Maria Stuart verkörpert. Sie spielt zunächst im Hintergrund wie aus der Höhle ihres Kerkers heraus, später entlang und auf den Tischen im Raum, die in einer viereckigen, geschlossenen Form aufgestellt sind wie in einem Gerichtsgebäude, hinter denen sich der Zuschauer als Beobachter, Zeuge, Schöffe oder Richter fühlen mag. Noch nicht ganz so anonym wie hinter seinen digitalen Geräten, aber schon bedrohlich, besser: lauernd. Für die Raumgestaltung hat Malina Rassfeld gesorgt.

Zelt bedient bei der Verkörperung Maria Stuarts die ganze, unendlich vielseitige Palette ihrer expressiven Schauspielkunst. Dabei geht es nicht darum, die Texte in einen gar nicht vorhandenen Zusammenhang zu stellen, sondern vielmehr werden sie von ihr intensiv und schonungslos ausgelebt. Sie stampft vor Empörung mit dem Fuß, erklimmt die Tische. Anspruch und Stolz der Königin scheinen grenzenlos zu sein. Doch darunter wird zunehmend ihre Verletzlichkeit spürbar. Ihr Geist durchlebt in der 19-jährigen Gefangenschaft stets wandelnde Gemütslagen und möglicherweise eine zunehmende Verwirrung. Das wird jedoch nicht wirklich klar. Sie selbst und ihr öffentliches Bild sind widersprüchlich, es wird immer unverständlicher, bis es gewissermaßen gemäß den Trends neuer, zeitgemäßer medialer Verarbeitung eine neue Realität annehmen kann. Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus.

Diese Zwischenstimmungen werden von vier Spielern, die zunächst als die Sänger der Funeral Music von Purcell eingeführt werden, stimuliert, gestisch und körperlich kommentiert, womöglich inhaltlich umgedeutet. In einer magischen, durch die Feierlichkeit der Musik noch gesteigerten Zwischenwelt agiert dieses Quartett, manchmal wie der Chor im antiken Theater, Ausrufer auf Marktplätzen im Mittelalter, Journalisten, Fernsehsprecher, Influencer – ein Gang durch die medialen Mittel der Zeitläufte. Man spürt die Manipulation, ohne dass Ursprung und Ziel erkennbar werden. Gibt es einen zentralen Manipulator? Die sehr streng choreografierten und diszipliniert agierenden und überzeugenden Sängerdarsteller sind Pia Carlotta Hansen, Benjamin Boresch, Ljuban Živanović und Luciano Lodi.

Foto © Nadja Häupl

Die Kostüme von Christina Geiger tragen erheblich zum Eindruck der Auflösung der Realität bei: Sie sind ganz in schwarz gehalten und weisen in ihrem weiten Schnitt Elemente der Kleidung aus dem 17. Jahrhundert auf. Sie werden aber gleichsam cross-gender verwendet, die Kostüme der Frauen folgen also eher männlichen Mustern und umgekehrt. Eine zeitweilige Verschleierung der Gesichter und Körper der vier Protagonisten steigert den unwirklichen Effekt.

Zu all diesen Darstellungselementen wirken die Schlagwerke in der Komposition von Hiller wie Klangkreationen in einem Zeittunnel. Die diversen Instrumente und die Spieler sind wirkungsvoll an den äußeren Rändern des Raumes, noch hinter dem um die Tische platzierten Publikum angeordnet. Unter der Leitung von Bar Avni und Nicolaus Kierdorf spielen Marlene Wolf, Elman Mecid, Yang Hung und Kağan Söylerkaya.

Die Magie der Produktion leitet sich sehr wesentlich aus dem bestechenden und ausgezeichnet abgestimmten Miteinander von Spiel, Bild, Kostüm und Klangwirkung ab, bei dem einem die Sinne vergehen wie in unserer modernen Medienwelt.

Sicherlich nicht zufällig findet die Aufführung in der so genannten Marzipanfabrik in einem sich rasant verändernden Gewerbegebiet Hamburgs statt. Während die Performance noch in der alten, nach Schmierölen riechenden Produktionshalle zur Aufführung gelangt, sprießen rundherum luxuriös ausgestattete, lichtdurchflutete Büroräume im Loft-Stil aus dem Boden. Die Firmenschilder verraten, dass hier viele Neugründungen im Medien- und Technologiebereich angesiedelt sind. Auch eine Wanderung durch etliche Jahrzehnte und Jahrhunderte in nur wenigen Schritten.

Achim Dombrowski