O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Andreas Schlieter

Aktuelle Aufführungen

Nachwuchs mit Tabuthema

NICHT ZU NAH
(Franz Schubert, Carlos Andres Rico)

Besuch am
4. April 2019
(Premiere)

 

Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Forum Musik + Theater

Harter Tobak! Regisseurin Michelle Affolter hat sich zusammen mit ihrem Team für die Abschlussinszenierung in der Hochschule für Musik und Theater Hamburg ein großes Tabuthema mit vermutet noch höherer Dunkelziffer gewählt: sexualisierte Gewalt unter Geschwistern.

Zu diesem Zweck hat sie sich mit ihrer Dramaturgin Mara Nitz durch Dokumentationen und eine Vielzahl von Interviewmaterial von jungen Männern gearbeitet, die solcherlei Übergriffe erlitten oder begangen haben. Diese Gesprächssituationen sind überwiegend in Begegnungen mit der Sozialwissenschaftlerin Esther Klees entstanden. Die sind verwoben mit literarischen Texten von Marius von Mayenburg und Dea Loher und werden von den vier Protagonisten der Aufführung vorgetragen. Dabei handelt es sich um zwei Frauen und zwei Männer, die für die Performance ihre Geschlechterspezifik aufgeben. Man weiß nicht immer sofort, welche Geschlechter-, Geschwister-, Täter- oder Opferrollen sie personifizieren.

Zu Beginn und ganz am Ende sitzen alle vier Darsteller auf Stühlen vor dem Publikum wie in einer Interview- oder kriminalistischen Befragungssituation. Später wird der kleine Bühnenraum mit sparsamen Spielsituationen erschlossen. Am seitlichen hinteren Rand sind ein Flügel sowie die Geräte für die elektronischen Musikkompositionen von Carlos Andre Rico positioniert.

Eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Vielmehr entsteht durch den Vortrag der Texte, der Collagen, elektronischer Musikelemente und Videoeinspielungen im Hintergrund eine nachgerade fiebrige und bedrückende Atmosphäre, die die Abläufe sexueller Annäherung und schließlich Übergriffigkeit nachzeichnen. Diese Interaktionsbeschreibungen von Täter und Opfer werden dokumentarisch, also ohne Wertung vorgetragen. Eventuelle Wertungsansätze entstehen im Kopf des Betrachters und Zuhörers, der entsetzt sein mag angesichts der auch von Kleinkindern erlebten Situationen. Der Schuldbegriff wird erstaunlicherweise wiederholt von den Opfern vorgetragen, die mitunter in aller Verwirrung und Hilflosigkeit die Verhältnisse umkehren und gar einen eigenen Schuldkomplex entwickeln.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Die Kostüme von Lina Mayer erscheinen äußerlich zunächst nichts anderes als Alltagskleidung darzustellen, greifen jedoch die jeweils den einzelnen Figuren auf der Bühne gegebene Charakterisierung in einer raffiniert-unterschwelligen Art sensibel auf.

Die räumlich stark eingeschränkte Bühne von Florence Schreiber kommt mit wenigen Requisiten und einem kleinen Rundhorizont aus, der durch braune, von der Decke hängenden Papierbahnen begrenzt wird. Der Raum des Forums der Musikhochschule mit respektablem Bühnen- und Zuschauerraum wird durch Stellwände künstlich verkleinert. Die so nur deutlich geringere Zuschauerzahl sitzt nah am Geschehen und wird unmittelbar mit der bedrückenden Wirkung der Texte und des Spiels konfrontiert.

Die sparsamen Videoelemente von Ruben Christiansen zeigen Ausschnitte von Körpern, die sich sacht in unbestimmter Annäherung zu bewegen scheinen. Sie strahlen etwas Bedrückendes aus. Ergänzt wird die Szene durch die Mitwirkung eines Bewegungschores von insgesamt dreizehn Mitgliedern, der in Fantasiegewändern barocker Reifröcke und in Masken von Greisen und Geistern wie aus einem Fassnachtsalb wiederholt über die Bühne und durch den Zuschauerraum schwebt.

Foto © Andreas Schlieter

Im Zentrum des musikalischen Vortrags steht das Lied Erlkönig von Franz Schubert. Der Countertenor Benjamin Boresch trägt, begleitet von der Pianistin Dulguun Chinchuluun, die unterschiedlichen Rollencharakterisierungen des Werkes mit feiner Differenzierung vor. Er tritt für diesen Vortrag aus dem Kreis der sprechenden und spielenden Darsteller hervor, dem er ansonsten angehört. Das Andante con moto aus dem Klaviertrio Nr. 2 wird in einer elektronisch bearbeiteten Fassung vorgetragen, weitere rein elektronische Klangmodulationen ergänzen den musikalischen Kosmos.

Frappierend ist die Wirkung der im Grunde wenigen musikalischen Elemente. Trotz des nur geringen Anteils des Liedvortrages bestimmt der Erlkönig mit seiner so unendlichen Fantasiemacht die Atmosphäre der gesamten Performance. Verführung, unschuldige Neugier, Ausgeliefertsein, Todesangst, spiegeln sich in Text und Musik des Werkes, als ob es für die Thematik geschrieben worden sei. So kann die rund 80-minütige Vorstellung in der Tat als musiktheatralische Performance gelten.

Die weiteren Mitwirkenden des spielenden und vortragenden Quartetts sind Sara Reifenscheid, Lisa Ursula Tschanz sowie Tino Frers. Ihnen allen gelingt ein Brückenschlag von einem ernsten und bedrückenden Thema zum gebannten Publikum. Auch das Programmheft ist für die Vermittlung des sicherlich nur wenigen Zuschauern geläufigen Sachverhalts sorgfältig und einprägsam redigiert und gestaltet.

Das Premierenpublikum ist sichtbar und hörbar bewegt und berührt, von großer Konzentration und Anteilnahme und spendet langen Applaus.

Achim Dombrowski