O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Christian Enger

Aktuelle Aufführungen

Die Kommunalka stürzt in den Globalismus

EUGEN ONEGIN
(Pjotr Iljitsch Tschaikowsky)

Besuch am
24. November 2018
(Premiere)

 

Junges Forum Musik + Theater in der Hochschule für Musik und Theater Hamburg

Tschaikowskys russische Nationaloper erzählt basierend auf Puschkins Versdrama die Geschichte einer durch Hochmut und gesellschaftliche Zwänge verpassten Beziehung. Die Handlung spielt im Russland im 19. Jahrhundert, zu Beginn auf einem Landgut, später in St. Petersburg. Das Liebesgeständnis der jungen Tatjana weist der Lebemann Eugen Onegin zunächst kühl zurück. Nach einem nichtigen Streit erschießt er seinen Gefährten Lenski im Duell. Nach Jahren eines rast- und inhaltlosen Lebens entdeckt er schließlich seine Liebe für die zuvor Zurückgewiesene bei einer unerwarteten Wiederbegegnung. Die verheiratete Tatjana folgt ihm trotz eines Liebeseingeständnisses ihrerseits dennoch nicht mehr.

Das Konzept des Regisseurs und Bühnenbildners Mien Bogaert benötigt viele Handlungselemente der Oper nicht. Das zarte Erwachen von Tatjanas Liebesempfinden für Onegin in ländlicher Umgebung des frühen 19. Jahrhunderts, wie in den ersten Szenen der Originalvorlage der Oper, entfällt. Die Hamburger Produktion startet sogleich mit der Briefszene, in welcher die Protagonistin Onegin ihre Gefühle in einem intimen Brief zu schreiben versucht.

Dabei spielt die Handlung zu Beginn in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts in einer sowjetischen Großstadt. Die verzweifelte Wunsch nach Liebe, Wärme und erfüllter menschlicher Beziehung entspringt hier auch der Sehnsucht nach einer Gegenwelt zu den trostlosen Umständen in der Kommunalka, dem Leben in den ursprünglich schon durch die Bolschewiki planwirtschaftlich verstaatlichten Wohnungen, die sich verschiedene Familien ohne nennenswerte Privatsphäre teilen müssen. Dort, in einer heruntergekommenen Gemeinschaftsküche kauernd, versucht Tatjana ein wenig Intimität zu finden, um ihre Zeilen an den angebeteten Künstler Onegin zu formulieren.

Keine verzärtelten Mädchenträume aus heimlich unter der Bettdecke gelesenen und gefieberten Puschkinträumen, sondern konkret nur der nachgerade sachliche, dringende Wunsch nach einer erfüllenden Zweierbeziehung in einem besseren Umfeld. Diese Sehnsucht ist unmittelbar einleuchtend und zwingend angesichts der vorherrschenden Lebensumstände; für den heutigen Betrachter in jedem Fall viel überzeugender und emotional nahestehender als die Vorlage aus dem Landleben des 19. Jahrhunderts.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Andere Jugendliche um Tatjana, wie zum Beispiel Lenski, verschaffen sich zur Distanzierung von ihrer Umwelt in Kleidung und Haarschnitt einen streng stilisierten, nonkonformistischen, von der Popart oder Andy Warhol inspirierten Auftritt. Sie wollen nichts als anders sein. Die Kostüme von Florian Parkitny zeigen das den ganzen Abend über eindrucksvoll. Ihre Einsamkeit, Unsicherheit, Unbedarftheit und Schwäche machen sie potentiell zu jugendlichen Verführungsopfern. So versucht Saretzki, seinen desillusionierten Freund Lenski angesichts seiner Verzweiflung und Todesahnung zum Duell mit Onegin mit Waffen und Munition aller Art wie zu einem terroristischen Angriff auszustatten, um sich im bevorstehenden Zweikampf, und man muss annehmen nicht nur dort, zu wehren und sich gewaltsam seinen Weg frei zu schießen. Lenski ist im Augenblick der entscheidenden Begegnung mit Onegin jedoch so gebrochen, dass ihm wie einem hilflosen, verführten Kind alle diese Waffen traumatisiert aus den Händen fallen. Er lässt sich einfach nur noch abknallen. Onegin erschießt den Freund ohne jede Emotion. Das Ende eines jungen Menschen, der durch einen nichtigen Anlass in die Katastrophe gerät, mit niemandem mehr spricht, von niemandem aufgefangen wird.

Onegin selbst hat sich zuvor als selbstbezogener Paradiesvogel auf dem Sockel der Kunst mit komplett kommunikationsunfähigem, radikal-asozialem Habitus präsentiert. Später und nach Jahren der inneren Flucht wird er in der Einsamkeit eines selbstverordneten Kühlschranks wie in einem Gefängnis lungern, bis er unerwartet Tatjana wiedersieht.

Das passiert nach über zehn Jahren, als er zu einer Party seines Freundes Gremin in dessen Konzernzentrale geladen ist. Wir befinden uns nun bereits in einer Zeit der wirtschaftlichen Entfesselung im Russland nach Gorbatschow und Jelzin.

In den glitzernden Ausstattungsmerkmalen einer kapitalistischen Fassade und den Leuchttafeln der Finanzmärkte demütigt und erniedrigt Gremin seine Vasallen und käufliche Frauen, deren scheinheilige und opportunistische Haltung genau abwägend, wie im Text seiner Arie genau vorgegeben. In Aussehen und Gestus wie ein roboterähnlicher Mutant, der Gründer, Inhaber und Lenker eines weltumspannenden Social-media-Konglomerats sein könnte, lässt er sich seine verwundete Brust mit einem künstlichen muskel-imitierenden Panzer vernähen, der womöglich weibliche Instinkte durch das Aussehen eines unwiderstehlichen Machokörpers bedienen und eine Schutzfunktion vor zukünftigen, weiteren physischen Angriffen gewähren soll. Seine Vitalität erhält sich Gremin durch Aufputschmittel und üppig fließenden Alkohol; sexuelle Stimulanz durch Gesten der Erniedrigung von Frauen, Schmerzzufügung und erotische Vampirspiele.

Dieser Gremin besitzt mittlerweile neben Macht und Geld auch Tatjana, deren Existenz im Goldkäfig unwirklich und gefaked wirkt.

Diese Welten jagen einem den Schauer über den Rücken. Aus einer sonst oft langweilig inszenierten Szene der Oper entspringt das Kaleidoskop eines Endzeitbildes wie in einer kapitalistischen Walpurgisnacht. Die Bildwelten könnten direkt Cosmopolis entstammen, dem Roman des Amerikaners Don DeLillo oder der Filmadaption von David Cronenberg. Hier wird in einem anderen künstlerischen Format eine ähnlich pervertierte und eiskalt abgekapselte Welt im Finanzglobalismus nachgezeichnet. Die Handlung spielt in New York. Aber wie häufig berühren sich die Erscheinungsformen des amerikanischen und russischen Kapitalismus.

Hongyu Chen singt und spielt einen eindrucksvollen Onegin, seine Gestaltung vom künstlerischen Paradiesvogel zum Verlorenen und Fremden in der neuen kapitalistischen Welt gelingt auf hohem Niveau. Für die ausdrucksstarke Charakterrolle des Gremin leistet Timotheus Maas eine hervorragende Umsetzung. Er geht stimmlich wie darstellerisch in die Vollen und spielt auch die extremeren Teile des Parts in dieser besonderen Produktion rückhaltlos und hochengagiert. Die Tatjana von Britta Glaser und mehr noch der Lenski von Ferdinand Keller verstehen es, eine in Teilen musikalisch unwirklich-entrückte Verkörperung zu vertreten, ohne die hohen stimmlichen Anforderungen der Partien zu vernachlässigen. Geng Lee ist ein stimmlich beweglicher, darstellerisch wandelbarer, manchmal mephistophelischer, immer theaterwirksamer Saretzki.

Die Partitur der Oper wurde für ein fünfzehnköpfiges Orchester, bestehend aus Musikern der Hochschule für Musik in Hamburg, arrangiert. Unter der engagierten und effektvollen Leitung von Yu Sugimoto vergisst man an Teilen des Abends, dass nicht ein komplettes Opernorchester im Graben sitzt.

Das Publikum feiert alle Musiker sowie das Leitungsteam mit großer Begeisterung.

Es ist zu hoffen, dass viele junge Leute im Alter der Studenten die Produktion sehen und sich von der Aktualität der Oper bei dieser besonderen Umsetzung faszinieren und begeistern lassen. Dann nämlich brächten sich die vielversprechenden künstlerischen Talente dieser Inszenierung ihr eigenes, junges Publikum der Zukunft gleich mit, das ansonsten wegzusterben droht. Organisierte und moderierte Begegnungen zwischen dem Jungen Forum und Schulklassen mit Besuch der Aufführung böten dazu eine besondere Chance.

Um die politisch und gesellschaftlich relevante Kreativität des zukünftigen Regienachwuchses steht es jedenfalls gut in Hamburg.

Achim Dombrowski