Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
BORIS GODUNOW
(Modest Mussorgsky)
Besuch am
20. September 2023
(Premiere am 16. September 2023)
Wer verstehen will, wie sich die russische Geschichte in Epochen der Zaren-Diktatoren vom ersten Zar Iwan IV., dem Schrecklichen, bis heute zu Putins mordenden Fantasien einer Zaren-Wiedergeburt entwickelt hat, der sollte in die Staatsoper Hamburg gehen. Frank Castorfs Inszenierung der Oper Boris Godunow von Modest Mussorgsky zeichnet mehr als nur ein dem gleichnamigen Roman Alexander Puschkins angelehntes Historiendrama, das die Geschichte des Russischen Staates von Nikolai Karamsin aus dem Jahr 1827 als belletristische Geschichtsschreibung erzählt.
Puschkins Text, ein Chronicle Play, stilistisch William Shakespeare verwandt, wird von Mussorgsky zu einem zwischen Tragik und kontrastierenden opulenten Libretto von fünf Akten und drei Einheiten verfasst, mit sprachlicher Ausdruckskraft changierend zwischen Vers und Prosa. Der Karamsins Historie eingeschriebenen Rechtfertigung eines mehr oder weniger Gott gegebenen Herrschaftsanspruchs hat schon Friedrich Schiller mit seinem unvollendeten Drama Demetrius im Jahr 1804 widersprochen.
Mussorgskys Oper zeigt einen doppelten Spiegel. Puschkins poetisch-belletristische Struktur des Zerrissenen moralischer Kategorien von Gut und Böse übersetzt Mussorgsky mit widersprüchlichen, ethnischen und liturgischen Zitaten. Die kompositorische, von der damaligen Kritik als Kakophonie diskreditierte Offenheit, die weder einer Zentralperspektive noch einer narrativen Kontinuität von Handlungsbögen folgt, ist eine Steilvorlage für Castorfs assoziierende Inszenierungsideen. Seine Regiearbeiten sind, wie seit 30 Jahren an der Staatsoper Hamburg oder wie mit seinem Der Ring des Nibelungen in Bayreuth von 2013 bis 2016, immer für eine Überraschung gut.
Foto © Brinkhoff/Mögenburg
Die für 2020 geplante Godunow-Inszenierung musste coronabedingt verschoben werden. Die Premiere 2023 – inzwischen nimmt der russische Angriff auf die Ukraine an mörderischer Intensität zu – fokussiert konsequent, ohne vordergründig zu polemisieren, auf eine bedrückend hoffnungslose, desorientierte Volksmasse. Eine, die sich nicht artikuliert und nicht erkennen kann oder will, dass Herrschaft auf Machtstrukturen aufgebaut ist, die sich immer gegen sie selbst wenden werden. Dass Godunow unausweichlich scheitern muss, obwohl er um die Liebe des Volkes buhlt, legt Castorfs Inszenierung bloß.
Ohne Scheu, einem nostalgisch aufgeladenen Kitsch das Wort zu reden, prahlen und glänzen die Protagonisten in aufwändig gearbeiteten Gewändern von Adrian Braga Peretzki zwischen extrem wechselnden Bühnenbildern von Aleksandar Denić. Castorf entrollt einen Bilderbogen russischer Geschichte mit Fallstricken. Wie man es von ihm kennt, wehen, weben, designen kapitalistische Marktströme eindeutig mit überdimensionierter, von Eiswürfeln umhüllter Coca-Cola-Flasche, wie mit kryptisch kyrillischen Facetten. Eine vereiste Gesellschaft im Untergang, deren Hoffnungen gekappt werden – oder doch nur im Übergang begriffen? Wer ist ein Gigant, wer ist ein Gastronom, wer kennt die Wahrheit? Die Prawda, allgegenwärtig, aber nichts ist wirklich wahr.
Bedeutungsschwanger dreht die Bühne immer wieder ein U-Boot, bezeichnet mit 917, frontal in den Hintergrund. 1917, die Magie eines Versprechens, das nicht einmal eine Kinolänge Bestand hat? Überblendet von Live- und Video-Filmschnitten, die die von Mussorgsky mit femininen Protagonisten erweiterte Ur-Boris-Geschichte erzählt, wird Castorfs Inszenierung zum Kino in der Oper. Die Skulptur Arbeiter und Kolchosbäuerin von Wera Muchina aus dem Jahr 1937 mit Hammer und Sichel, Symbol des sozialistischen Realismus und Signet von Mosfilm, im Original 24,5 Meter hoch, ist Castorfs dystopischer Fingerzeig.
Foto © Brinkhoff/Mögenburg
Kent Nagano am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg liefert dazu eine exquisite Filmmusik jenseits stimmungsvoller Untermalung. Er hält mit Mussorgsky orchestral wunderbar betonend Kurs. Klar akzentuiert das Blech, nobel das Holz, eingebunden in differenzierte Tutti des Orchesters. Mitunter düster morbid in allen klanglichen Schattierungen.
Schwieriger sind die Aufgaben für den Chor der Staatsoper Hamburg zwischen Singen, Darstellen und Spielen die Akzente auszubalancieren. Neben einigen Unstimmigkeiten in der dramaturgischen Abstimmung hat Eberhard Friedrich für den Chor eine mitunter kaskadierende Klangfülle in dieser so genannten Choroper gebündelt.
Als Zeit der Wirren werden in Russland die Jahre zwischen dem Tod Iwans des Schrecklichen und der Thronbesteigung der Romanows bezeichnet. Es wirkt wie eine zeitunabhängige, historisch sich wiederholende Folie. Heute, in global unübersichtlichen Zeiten von Krieg und Fluchtbewegungen, muss der Blick in die Besetzung der Solisten wie eine diplomatische Arabeske der Kunst erscheinen. Mehr als zwanzig Nationalitäten auf und hinter der Bühne arbeiten in dieser Godunow-Inszenierung zusammen.
Der weltweit umworbene Bassist Alexander Tsymbalyuk als Godunow zusammen mit seinem Landsmann aus dem gleichen Stimmfach Vitalij Kowaljow als charismatischer Mönch Pimen. Beide sind 1976 und 1969 in der Ukraine geboren. Die kanadische Mezzosopranistin Kady Evanyshyn als Fürst Fjodor, Matthias Klink als Fürst Schuiskij, der deutsch-turkmenische Tenor Dovlet Nurgeldiyev in den Rollen von Grigori und Dimitrij sowie weitere, hoch motivierte Solisten übersetzen Castorfs Kinobreitwand-Inszenierung in eine anspruchsvolle Bildungsoper.
Vermutlich wäre Mussorgsky sehr einverstanden mit dieser Interpretation und ihrer musikalischen Intensität. Die Zuschauer bekunden lautstark ihre Zustimmung.
Peter E. Rytz