O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Das beschriebene Mädchen

DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK
(Grigori Frid)

Besuch am
20. Oktober 2018
(Premiere)

 

Lea-Drüppel-Theater, Haltern am See

Das ehemalige Kino Filmklappe liegt in einem verborgenen, aber gemütlichen Winkel der Altstadt von Haltern am See, einer knapp 40.000 Einwohner umfassenden Stadt im Kreis Recklinghausen. Lange Jahre stand es leer, ehe es 2016 zu einer der vielleicht schönsten Gedenkstätten überhaupt wurde. Ein Jahr, nachdem die Flugzeugkatastrophe in den französischen Alpen unter anderem 16 Schülerinnen und zwei Lehrerinnen des Joseph-König-Gymnasiums aus Haltern am See in den Tod riss, wurde das Lea-Drüppel-Theater eröffnet.

Lea liebte die Musik und das Schauspiel. Sie wurde 15 Jahre alt. Für ein lebensbejahendes Mädchen ist eine Skulptur in irgendeinem Park mit einer Kerze davor nicht die richtige Art von Erinnerung, fand Mutter Anne. Heute lebt das Gedenken an Lea in der Jugend- und Theaterarbeit fort, die in dem kleinen Haus geleistet wird.

Ein anderes Mädchen, ebenfalls lebenslustig, mit Vorliebe für das Literarische, wurde auch nur 15 Jahre alt. Es starb Anfang März 1945 in Bergen-Belsen. Im Konzentrationslager. Sein Vater sorgte mit der Veröffentlichung des Tagebuchs der Anne Frank dafür, dass die Tochter unsterblich wurde und heute als Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes steht.

Als Ruben Michael das Lea-Drüppel-Theater das erste Mal betrat, wusste er sofort, dass er mit seiner neuesten Arbeit hierhin musste. Nachdem er als 15-Jähriger Bastien et Bastienne inszeniert hatte, folgte im vergangenen Jahr seine nächste Regie-Arbeit, Trouble in Tahiti von Leonard Bernstein. In diesem Jahr steht Das Tagebuch der Anne Frank auf seiner Agenda, in der Opernfassung von Grigori Frid. Das knapp einstündige Werk in 21 Sätzen aus dem Jahr 1966 wurde seit seiner Uraufführung am 18. Mai 1972 im Haus der Komponisten in Moskau immer wieder gern gezeigt, weil es, wenn man will, mit wenig Aufwand zu inszenieren und „pädagogisch wertvoll“, vor allem aber auch musikalisch höchst eindrucksvoll ist. Frid hat das Stück durchkomponiert und mit rezitativischen Texten aus dem Tagebuch versehen. In Deutschland wird üblicherweise die zweite, reduzierte Fassung in der Übersetzung von Ulrike Platow gezeigt. Das ist auch bei Michael nicht anders. Der Jung-Regisseur setzt mit der Wahl des Stückes ein Signal zur rechten Zeit und beweist damit, dass es hier nicht nur um die Lust eines Jugendlichen an der Oper geht, sondern er jetzt schon eine der wichtigsten Eigenschaften des Regisseurs aufweist: Das Gespür für gesellschaftliche Relevanz. Und so traut man ihm schon im Vorfeld die nötige Ernsthaftigkeit zu, sich mit einem derart anspruchsvollen Thema wie dem der Anne Frank auseinanderzusetzen.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Denn die 13-jährige Anne steht nicht nur für die Verfolgten dieser Erde, sondern auch für eine Haltung. Sie ist vom Charakter her lebenslustig, Neuem gegenüber aufgeschlossen, von Naturliebe beseelt und optimistisch bis zumindest drei Tage vor ihrer Entdeckung. Aber was kann jemand in dem Alter tun, der vor Energie sprüht, sich aber auf Zehenspitzen bewegen muss? Und wie bringt man diesen Konflikt glaubhaft auf die Bühne? Eine kaum lösbare Aufgabe. Und doch gelingt es Michael bravourös. Auf der kleinen Bühne des Theaters steht das Klavier mit der Tastatur zum Publikum im Mittelpunkt. Der Klavierspieler sitzt also mit dem Rücken zum Publikum. Er ist also anwesend, notwendig als Musiker, nicht als handelnde Person. Dahinter eine weiße Wand, die Platz bietet für ein paar Videoprojektionen, die aber komplett überflüssig sind. Um das Klavier herum ist der Spielplatz für Anne, die sich mit ein paar Requisiten begnügen muss. Schon beim Licht beweist Michael, dass er ein ganz feines Gespür für die Bühne hat. Geschickt unterstreicht er die einzelnen Bilder mit Scheinwerfersetzungen, die atmosphärisch stimmig sind und die Inhalte unterstützen. Besonders gelungen die Stelle, an der Anne zum Fensterspalt hinausschaut. Eine schmale Lichtprojektion genügt, in die Anne hineinschaut, um die fatale Aussichtslosigkeit der Situation zu zeigen. Dass Anne gleich zu Beginn eine line inhaliert – geschenkt. Ein bisschen Übermut darf sein. Dass aus dem „Stoff“ mittels zweier Getränke-Plastikflaschen eine Sanduhr wird, deren Zeit unabänderlich abläuft, ist dagegen schon ein ganz großes Bild, dass richtig intelligent gelöst ist. So beeindruckt man das Publikum schon gleich zu Anfang mit einfachsten Mitteln. In Sachen Personenführung möchte man die ganze Zeit über verzückt applaudieren. Es ist eine Sache, auf einer riesigen Bühne mit Chor und Ballett Personen zu bewegen, um für die notwendige Unterhaltung und Abwechslung zu sorgen, die andere Sache ist, eine einzige Person so auf Trab zu halten, dass sie das Publikum nicht langweilt. Ruben Michael gelingt das leichterdings – allerdings auch deshalb, weil er die richtige Darstellerin motivieren kann.

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Paula Rohde liefert eine fantastische Arbeit ab. Sie tritt als Anne Frank von heute auf. Das Haar nachlässig sortiert, Nasenring, die Jogging-Hose einer bekannten Sportartikelfirma zu einem lässigen schwarzrot-karierten Oberteil kombiniert, beschreibt sie schon vor Beginn der Vorstellung fortwährend freiliegende Körperstellen mit Zitaten. Das überwiegend ältere Publikum kann sie wahrscheinlich mit dieser jugendlich-modernen Ausstattung nicht so unbedingt begeistern. Braucht sie aber auch nicht, weil sie mit ihrer Leistung in Sachen Gesang und Darstellung die Besucher eine Stunde lang in Atem hält. Auch wenn es mit der Textverständlichkeit in dieser ungesunden Akustik bisweilen ein wenig hapert, fesselt ihre musikalische Interpretation mindestens ebenso sehr wie die darstellerische Leistung. Die Sopranistin, die derzeit an der Hochschule für Musik in Detmold auf Master im Operngesang studiert und nebenbei als Musiklehrerin an einer Musikschule arbeitet, gefällt in den expressiven Ausbrüchen des Komponisten genauso wie in den Piani oder – ganz köstlich – im nachgespielten Dialog der Eheleute. Dass sie auch mal über und auf das Klavier klettert, macht Spaß und die körperliche Selbstentdeckung auf dem Klavier strahlt sogar Erotik aus. Wenn sie sich am Ende schlicht auf den Boden legt und stirbt, herrscht ergriffene Stille im Publikum. Großartig.

Der zweite Partner, den Michael an diesem Abend an seiner Seite weiß, ist der musikalische Leiter – also der Pianist – Telmo Mazurek. Er sorgt in kurzer Hose dafür, dass keinen Moment Langeweile aufkommt, spielt ohne Rücksicht auf die Akustik lautstark, aber differenziert auf. Wer diesen Abend erlebt, braucht keine orchestrale Fassung, weil Mazurek mit seinem Spiel fasziniert und die nötige Spannung von der ersten Sekunde bis zum Schlussakkord aufrechterhält.

Am Ende will das Publikum nicht aufhören zu klatschen. Zu Recht. Michael, Rohde und Mazurek haben hier ein Stück auf die Bühne gebracht, das man nicht nur einmal erleben möchte. Mit vergleichsweise minimalen Mitteln, Intelligenz und Spielfreude zeigen die drei hier ein Stück aktueller Operngeschichte, das eindeutig Stellung bezieht und gleichzeitig Jugendlichen ohne erhobenen Zeigefinger zeigt, dass „rechts“ keine Lösung ist, sondern es sich lohnt, andere Werte in den Mittelpunkt des eigenen Lebens zu stellen. Eine Interpretation, die man häufiger sehen möchte als nur in der zweiten Vorstellung am 2. November im Redhorn District.

Michael S. Zerban