O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jörg Landsberg

Aktuelle Aufführungen

Arno Schmidt trifft auf Edgar Allan Poe

ZETTELS TRAUM
(Diverse Komponisten)

Besuch am
11. September 2022
(Uraufführung am 3. September 2022)

 

Theater Hagen

Hagen geht es nicht besser als den meisten Theatern in unserem Land, was den Rückgang der Besucherzahlen angeht. Intendant Francis Hüsers hat es schwer, das Große Haus selbst mit einem Hit wie Giuseppe Verdis Schauerdrama Il Trovatore zu füllen. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass die Stühle bei einem Musiktheater-Experiment auf der kleineren Studiobühne weitgehend voll besetzt sind. Populäres und Neues anzubieten, diese an sich sinnvolle Programmpolitik Hüsers scheint beim Publikum noch nicht angekommen zu sein.

Zur Chefsache macht Hüsers Zettels Traum, ein „barock-zeitgenössisch-jazziges Musiktheater-Experiment“, das viele Zutaten aus der Hochkultur zu einer interessanten, dramaturgisch jedoch problematischen Melange verrührt. Musik der Renaissance-Meister Thomas Tallis und John Dowland, moderat Modernes von Benjamin Britten und Zeitgenössisches von Michael van der Aa und Clara Iannotta bilden die musikalische Substanz einer literarischen Vermengung von Arno Schmidts komplexem Mammut-Roman Zettel’s Traum mit vier Erzählungen Edgar Allan Poes.

Schmidts Werk bildet allerdings nur die dürre Rahmenhandlung. Paul und Wilma Jacobi sind mit der 16-jährigen Tochter Franziska zu Besuch beim Freund der Familie, dem englischen Philologen Daniel Pagenstecher, der an einer Übersetzung der Grusel-Storys von Edgar Allan Poe arbeitet. Man speist zusammen, philosophiert und streitet um die beste Ausdeutung des Lebens und Werks des Erzählers. Eine engere erotische Liaison Daniels und Franziskas wird abgewendet. Die realisiert sich nur im Traum.

Die Diskussionen über Poe werden auf eine theatralische Ebene geführt, wenn die vollständig rezitierten Erzählungen Ligeia, Das verräterische Herz, Grube und Pendel sowie die Ballade Der Rabe ein szenisches Eigenleben annehmen. Verknüpft mit Liedern, Songs und Kammermusiken der genannten Komponisten.

Allerdings gelingt Hüsers keine wirklich stimmige Verknüpfung der Handlungsebenen. Im Grunde werden drei nur lose miteinander verbundene Formate auf die Bühne gestellt: Die dünne Rahmenhandlung, eine Dichterlesung der Poe-Erzählungen und ein Liederabend. Wobei Der Rabe zum Abschluss strophenweise auf Englisch und Deutsch rezitiert wird, was nicht nur den Handlungsfluss des Textes stört, sondern auch das Finale in die Länge zieht.

Auch die Auswahl der Musikstücke kann nicht rundum überzeugen. So schön und lupenrein die auch in der Rolle der Franziska darstellerisch brillante, junge Sopranistin Elisabeth Pilon die Songs von Dowland vorträgt, so klar und kultiviert der Bariton Kenneth Mattice die Gesänge von Benjamin Britten interpretiert und die englischsprachigen Teile der Rabe-Ballade artikuliert. Mit den Romanzen erhalten die Poe-Texte einen romantisierten Anstrich, der nicht zu der distanzierten Erzählweise des Schriftstellers passen will.

Die engste Übereinstimmung erzielen die hintergründig leisen, geräuschhaften Streichquartett-Klänge von Clara Iannotta zur Erzählsequenz Grube und Pendel. Mit einer Jazz-Improvisation von Pat Metheny schließt das Experiment, für das Bühnenbildnerin Sophia Lindemann einen langen Tisch ins Zentrum der Spielfläche stellt, um den sich die Familienmitglieder versammeln. Raffinierte Lichteffekte von Martin Gehrke und Lukas Ludwig verwandelten die neutrale Szenerie in bizarre Traum- und Horrorlandschaften.

Die Schauspieler und Musiker des Hagener Ensembles unternehmen allesamt ihr Bestes, können allerdings die dramaturgischen und stilistischen Brüche des Projekts nicht auffangen. Vielleicht hat Francis Hüsers für seine musiktheatralische Collage in zu viele kulturelle Töpfe gegriffen. Dem Publikum gefällt es, wie der langanhaltende Beifall beweist.

Pedro Obiera